Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1994
Filmbuch des Jahres

Ralf Schenck (Red.)
Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg
DEFA-Spielfilme 1946-1992
Henschel Verlag, Berlin 1994
560 S. (88 DM)
ISBN 3-89487-175-X

Ralf Schenck (Red.):
Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg

Drei Bücher in einem: ein Bildband, eine komplette Filmographie aller DEFA-Spielfilme und eine gut recherchierte Produktionsgeschichte. Herausgegeben vom Filmmuseum Potsdam, redaktionell verantwortet von Ralf Schenk.

In sechs Kapiteln werden die Spielfilme der DEFA abgehandelt. Die zwei Autoren und vier Autorinnen – Christiane Mückenberger, Ralf Schenk, Erika Richter, Klaus Wischniewski, Elke Schieber und Bärbel Dalichow – sind mit dem Thema bestens vertraut. Sie haben eine hohe Identifikation mit der DEFA, aber eine spürbare Distanz zur Ideologie des DDR-Staates. Das ganze ist ein Drahtseilakt, weil die Nähe zur DDR-Zeit noch ziemlich groß ist. Dennoch empfinde ich das Buch als ein Schlüsselwerk, weil die Darstellung aus einer Zeitgenossenschaft heraus erfolgt. Alle Beteiligten verfügen über eine große Kompetenz. Mehr Information über 40 Jahre DEFA kann man  nicht haben. Sie breitet sich auf 350 Seiten aus. Und dann folgen 200 Seiten mit einer kommentierten Filmografie aller DEFA-Filme, die für den alltäglichen Gebrauch unersetzbar ist. Nicht zu reden von der sehr informativen Bildebene.

Der Filmjournalist Heinz Kersten, wohnhaft in Westberlin, hat über Jahrzehnte für den Tagesspiegel und die Frankfurter Rundschau die DEFA-Produktion kritisch und zugeneigt begleitet. Mit dieser Haltung hat er auch das Buch über das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg rezensiert. Ich zitiere:

„(…) Die Defa war wie einst die Ufa ein Unternehmen, das besaß, was der deutschen Filmszene heute fehlt: einen eingespielten Stamm hoch qualifizierter Handwerker und Künstler mit einer vorausplanenden Dramaturgie in einer eigenen Filmstadt; neben dieser Spielfilmfabrik gab es Studios für Dokumentar- und Trickfilme und einen Verleih, der dafür sorgte, dass die Produktionen ans Publikum kamen. Versuche, eine aus Staatsabhängigkeit befreite Defa in ein nun ‚gesamtdeutsches‘ Unternehmen von Filmemachern zu verwandeln, hat es nicht gegeben: eine verpasste Chance für die häufig geforderte Konzentration der deutschen Filmwirtschaft. Konsequenterweise verschwand schließlich auch der Name Defa, dem nach Meinung von Volker Schlöndorff, der das Babelsberger Erbe antrat, ein unguter Geruch anhaftet. Immerhin entstanden unter diesem Markenzeichen einmal Filme wie STERNE von Konrad Wolf und, Oscar-nominiert, JAKOB DER LÜGNER von Frank Beyer: übersehen von jenen, die im Zusammenhang mit SCHINDLERS LISTE beklagten, dass es keinen deutschen Film zum Thema Holocaust gebe. Fortgeschrieben wurde da der zur Zeit der Teilung übliche Sprachgebrauch, unter ‚deutsch‘ immer nur westdeutsch zu verstehen.

Umso wichtiger erscheint eine umfangreiche Publikation des Film-museums Potsdam zur Geschichte der Defa, die nicht nur als Nach-schlagewerk unschätzbare Dienste leistet (bis hin zur kompletten Filmografie aller knapp 750 Defa-Spielfilme einschließlich nicht aufgeführter und abgebrochener Produktionen mit Stablisten und Hinweisen auf die wichtigsten Kritiken). Mit fast 900 Fotos präsentiert sich der 560-Seiten-Band auch optisch opulent und bereitet dank exzellenter Schreiber großes Lesevergnügen, manchmal spannend wie ein Krimi. Denn detektivisch sind die Autoren auf Spurensuche gegangen: Fündig wurden sie im Betriebsarchiv der Defa, dem Parteiarchiv der SED, den Akten der Hauptverwaltung Film und den Erinnerungen zum Teil schon über achtzigjährigen Babelsberger Veteranen, mit denen sie lange Gespräche führten. Nach-Wende-Möglichkeiten, die den Rezensenten als frühen Defa-Chronisten ohne Zugang zu solchen Quellen bei der Lektüre manchmal mit etwas Neid erfüllten.

Zugute kommt dem Buch, dass die Beiträge von intimen, zum Teil von Inside-Kennern  der Materie stammen: Christiane Mückenberger, Ralf Schenk, Erika Richter, Klaus Wischnewski, Elke Schieber, Bärbel Dalichow. Der Titel ‚Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg‘ verweist nicht nur auf die Wiederauferstehung aus den Trümmern der Ufa, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, sondern assoziiert auch einen Defa-Film von Siegfried Kühn: DAS ZWEITE LEBEN DES FRIEDRICH WILHELM GEORG PLATOW, 1973 inhaltlich und stilistisch ein Schritt in Neuland, aber wie so vieles, was von konventionellen Wegen abwich, gleich von der Bürokratie gestoppt. In Studiokinos abgedrängt, totgeschwiegen und mit Exportverbot belegt, blieb dieses kleine Meisterwerk nahezu unbekannt (die einzige gedruckte Kritik, vom Schreiber dieser Zeilen, stand im Tagesspiegel). Kühns Pech war, dass gerade erst Heiner Carows LEGENDE VON PAUL UND PAULA das Stirnrunzeln der Partei hervorgerufen hatte, aber wegen des Publikumserfolgs nicht mehr unterdrückt werden konnte. Von solchen Unwägbarkeiten war die ganze Defa-Entwicklung bestimmt. Oft stießen gerade die besten Filme auf absurde Kritik kunstfremder Funktionäre. Das Buch zitiert nicht wenige der manchmal unfreiwillig komischen ‚Einschätzungen‘. Aber es gab auch Überraschendes. In den achtziger Jahren eröffneten unverhohlen kritische Filme wie Roland Gräfs MÄRKISCHE FORSCHUNGEN (nach Günter de Bruyn) und Helmut Dziubas ERSCHEINEN PFLICHT nationale Spielfilmfestivals in Karl-Marx-Stadt, letzterer wurde anschließend freilich in den Kinos wieder unterdrückt.

Defa-Geschichte ist DDR-Geschichte. Die Entwicklung der Babels-berger Filmfabrik war stets abhängig von der jeweiligen politischen Wetterlage. Kapitelüberschriften machen es deutlich: ‚Zeit der Hoffnungen‘ (1946 bis 49), ‚Mitten im Kalten Krieg‘ (1950 bis 60), ‚Zwischen Mauerbau und Kahlschlag‘ (1961 bis 65), ‚Anfang vom Ende oder Kontinuität des Argwohns‘ (1980 bis 89). Man erfährt nicht nur etwas über die Mechanismen der politischen Kontrolle, sondern findet auch filmhistorische Verweise. So registriert Christiane Mückenberger für die Anfangsphase unter höchst liberaler sowjetischer Aufsicht stilistische und personelle Bezüge zu den zwanziger Jahren. Ralf Schenks Recherchen über die fünfziger Jahre förderten viele bisher unbekannte Fakten nicht zuletzt über damals noch bestehende West-Verbindungen zutage. Abgesehen davon, dass eine ganze Reihe damals in Babelsberg beschäftigter Künstler in Westberlin oder der Bundesrepublik zuhause  waren, gab es während der Tauwetter-Periode des ‚Neuen Kurses‘ intensive Bemühungen um Koproduktionen, für die zum Beispiel Artur Brauner 13 Projekte vorschlug, was aber an einem Bonner Veto scheiterte. Für die von Wolfgang Staudte realisierte und in Westdeutschland diffamierte Verfilmung des ‚Untertan‘ war sogar an Erich von Stroheim als Regisseur gedacht worden. In Klaus Wischnewskis sich durch einen hohen politischen Reflexionsgrad auszeichnendem Beitrag wird als weitere Kuriosität eine Frage des Kulturministers Klaus Gysi von 1966 erwähnt, warum man nicht Filme machen könne wie Veit Harlans Duchhalte-Opus KOLBERG – was an Goebbels‘ Ruf nach einem nationalsozialistischen PANZERKREUZER POTEMKIN denken lässt.

Aber das Buch widerlegt auch manche heute wohlfeile Behauptungen: Etwa, dass es in der DDR nur einen ‚verordneten‘ Antifaschismus gegeben habe. Viele Filme zu dieser Thematik entsprangen dem Bedürfnis ihrer Macher  und zählten zu den besten DEFA-Produk-tionen. ‚Das letzte Kapitel‘ von Bärbel Dalichow liefert neben einer detaillierten Chronologie des Ausverkaufs von Babelsberg auch eine kritische, ganz unnostalgische Analyse der letzten Defa-Filme und ebenso treffende Refelxionen über den ‚Zeitgeist‘. Stellvertretend für manch Zitierenswertes der anderen Autoren stehe das Fazit der Direktorin des Potsdamer Filmmuseums: ‚Filmzuschauer und Filmemacher im Osten haben mit der Defa mehr verloren als einen Filmbetrieb. Sie verloren den gemeinschaftlichen Wunsch nach Weltverbesserung an eine Gesellschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist.'“

Heinz Kersten in: Der Tagesspiegel, 10. April 1994