INTIMACY (2001)

Der Film von Patrice Chéreau lief 2001 im Wettbewerb der Berlinale und gewann damals den Goldenen Bären. Das erotische Psychodrama spielt in London. Immer mittwochs besucht Claire den Musiker Jay in seiner Wohnung und hat Sex mit ihm. Sie wissen sonst nichts voneinander, bis Jay die Spur aufnimmt und herausfindet, dass Claire Schauspielerin ist, einen Taxifahrer als Ehemann hat und mit ihm zusammen einen Sohn. Es ist eine eigene, durchaus glückliche Welt, in der sie lebt und die sie nur am Mittwochnachmittag verlässt. Jays Entdeckungen sind folgenreich für die Sexbeziehung. Chéreaus Bildsprache ist freizügig, aber nicht voyeuristisch. Die Protagonisten sind nicht idealisiert, sie erscheinen als „gewöhnliche Menschen“, auch wenn sie sich ungewöhnliche Freiheiten nehmen. Die Kamera (Eric Gautier) bleibt nah bei ihnen, Mark Rylance (Jay) und Kerry Fox (Claire) gelingt eine erstaunlich differenzierte Darstellung ihres individuellen Lebens. Bei StudioCanal ist jetzt die DVD des Films erschienen. Mehr zur DVD: arthaus.de/intimacy

ROADS (2019)

Zwei Achtzehnjährige treffen in der Nacht in Marokko aufein-ander: der eine, Gyllen, stammt aus London, will den Familien-urlaub beenden, hat seinem Stiefvater gerade das Wohn-mobil geklaut und macht sich auf die Suche nach seinem leiblichen Vater; der andere, William, kommt aus dem Kongo und ist auf der Flucht nach Europa, wo sich bereits sein Bruder aufhält. Das Wohnmobil hat seine Tücken, William kann Gyllen helfen, es wieder in Fahrt zu bringen und ist von nun an an Bord. Die gemeinsame Reise führt von Marokko über Spanien und Frankreich nach Calais. Unterwegs gibt es viele brenzlige Situationen, in denen das Duo gemeinsam stark ist. Dieses Road-Movie von Sebastian Schipper, sein neuer Film nach VICTORIA (2015), hat große Qualitäten vor allem durch das Zusammenspiel von Fionn Whitehead (Gyllen) und Stéphane Bak (William). Es gibt dramaturgische Überflüssigkeiten und pädagogische Zeigefinger-Momente (Flüchtlingskrise!), aber die 99 Minuten sind gut zu bewältigen. Bei StudioCanal ist jetzt die DVD des Films erschienen, die zu empfehlen ist. Mehr zur DVD: dvd/roads

Berühmte Tote leben ewig

16 Männer und Frauen werden von dem Journalisten Bernd Oertwig porträtiert, die in Berlin gelebt haben und auf ungewöhnliche Weise gestorben sind. Die Tänzerin und Schau-spielerin Anita Berber, „die wildeste Frau der Weimarer Republik“, erlag mit 29 Jahren ihrer Tuberkulose-Erkrankung. Die Buchhändlerin Antoinette Weiß starb im Alter von 27 Jahren und wurde 1805 auf dem Friedhof am Oranienburger Tor begraben. Ihr Mann bezahlte die Grabstelle für 100 Jahre. Als der Friedhof 1902 geschlossen wurde, verweigerte die Familie eine Umbettung. Der Architekt Bruno Schmitz wurde in einen der prominentesten Ehebruchs-Skandale des Kaiserreichs verwickelt. Der Boxer Bubi Scholz erschoss im Rausch seine Frau Helga, musste für drei Jahre ins Gefängnis und starb dement im Sommer 2000. Charlotte Stieglitz, Ehefrau des Dichters Heinrich Stieglitz, erstach sich 1834 im Alter von 28 Jahren mit einem Dolch. Der Architekt und Widerstands-kämpfer Erich Gloeden wurde 1944 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Den zwanzigjährigen Gefreiten Fritz Will erschlug am 14. August 1889 im Tiergarten ein Blitz. Der Maler und Grafiker George Grosz musste in der Weimarer Republik zahlreiche Prozesse überstehen, emigrierte 1933 in die USA und starb 1959 nach einem Treppensturz in Berlin. Der Fotograf Helmut Newton starb 83jährig nach einem selbst verschuldeten Verkehrsunfall in Los Angeles. Karl Ludwig von Hinckeldey wurde 1848 Polizeipräsident von Berlin und verlor 1856 ein Pistolenduell. Kühnemund von Arnim, Sohn von Bettina und Achim von Arnim, starb 1835 18jährig nach einem Kopfsprung in die Spree. Der Philosoph Max Stirner wurde 1856 das Opfer eines Insektenstichs. Die Pilotin Melli Beese erschoss sich 1925 morphiumsüchtig. Der Verleger und Kunsthändler Paul Cassirer starb 1926 an den Folgen eines Suizidversuchs. Die Schauspielerin Renate Müller fiel 1937 angetrunken aus dem ersten Stock ihrer Villa in Berlin-Dahlem. Der russische Jurist Wladimir Dmitrijewitsch Nabokow wurde 1922 in Berlin bei einem Attentat erschossen. Der Autor porträtiert die genannten 16 Personen auf anschauliche Weise, informiert detailliert über ihr Ende und ihre Bestattung. Spannende Lektüre. Mit Abbildungen. Mehr zum Buch: beruehmte-tote-leben-ewig.html

Making Of

Das Buch, präsentiert von der Zeitschrift cinema, führt uns hinter die Kulissen der 25 „größten Filmklassiker aller Zeiten“. Dies sind in chronologischer Reihenfolge: CASABLANCA (1942) von Michael Curtiz, GIANT (1956) von George Stevens, JAMES BOND – 007 JAGD DR. NO (1962) von Terence Young, LAWRENCE OF ARABIA (1962) von David Lean, THE BIRDS (1963) von Alfred Hitchcock, CLEOPATRA (1963) von Joseph L. Mankiewicz, 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM (1968) von Stanley Kubrick, ROSEMARYS`S BABY (1968) von Roman Polanski, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD (1968) von Sergio Leone, EASY RIDER (1969) von Dennis Hopper, THE WILD BUNCH (1969) von Sam Peckinpah, THE GODFATHER (1972) von Francis Ford Coppola, CHINATOWN (1974) von Roman Polanski TAXI DRIVER (1976) von Martin Scorsese, STAR WARS – EPISODE IV (1977) von George Lucas, ALIEN (1979) von Ridley Scott, APOCALYPSE NOW (1979) von Francis Ford Coppola, THE ELEFANT MAN (1980) von David Lynch, SHINING (1980) von Stanley Kubrick, BLADE RUNNER (1982) von Ridley Scott, E.T. – THE EXTRA-TERRESTRIAL (1982) von Steven Spielberg, RAMBO (1982) von Ted Kotcheff, SCARFACE (1983) von Brian De Palma, GHOSTBUSTERS (1984) von Ivan Reitman und THE SILENCE OF THE LAMBS (1991) von Jonathan Demme. Natürlich ist die Auswahl sehr willkürlich, und man vermisst sofort Klassiker wie GONE WITH THE WIND, CITIZEN KANE, Filme von John Ford und Howard Hawks, Charles Chaplin und Buster Keaton. Aber die Texte sind sachkundig, sie stammen von Ralf Blau, Artur Jung, Heiko Rosner, Ulrike Schröder und Sebastian Seidler, die Abbildungen wirken gut ausgewählt. Also ein Coffee Table Book der besseren Art. Mehr zum Buch: groessten-filmklassiker-aller-zeiten-ydcine001

Liesl Karlstadt

Mit Karl Valentin als Partner war sie mehrere Jahrzehnte auf der Bühne und im Film erfolg-reich. Sie verkörperte den ge-sunden Menschenverstand, er war für das Chaos zuständig. Zu ihren erfolgreichsten Filmen gehörten MYSTERIEN EINES FRISIERSALONS (1923) und DIE VERKAUFTE BRAUT (1932). Als Valentin 1934 ein Museumsprojekt in den Sand setzte und mit einer neuen Partnerin auftrat, begann für sie eine tiefe Krise. Sie versuchte 1935, sich mit einem Sprung in die Isar das Leben zu nehmen, verbrachte viele Monate in der Klinik und später bei einer Gebirgsjägereinheit, trennte sich von Valentin und suchte nach einer eigenen Identität. Das Buch von Sabine Rinberger und Andreas Koll, erschienen im Verlag Antje Kunstmann, erzählt die Lebensgeschichte von Liesl Karlstadt mit dem Schwerpunkt auf den Jahren 1935 bis 1945. Sie starb 1960 an den Folgen eines Gehirnschlags. Fotos und Dokumente begleiten den gut recherchierten Text. Mehr zum Buch: 9783956143250/t-1/

Mediale Topographien

15 Texte über Grenzräume, Transferräume und mythische Räume. Ich nenne acht, die mir besonders gut gefallen haben: Norbert Grob beschäftigt sich mit dem „Kampf um den Garten“ bei John Ford, richtet seinen Blick auf das Grenzland zwischen Wildnis und Zivilisa-tion und erinnert an wichtige Szenen in THE SEARCHERS. Andreas Hamburger beschreibt Joel and Ethan Coen`s NO COUNTRY FOR OLD MEN „as a Postmodern Borderline Myth“. Bei Johannes Binotto geht es um „Border and Transgression in the Films of Sam Peckinpah“. Anton Escher fragt, ob Rick’s Café Américain ein Nachtclub in New York City ist. Oksana Bulgakowa hört, wie Marokko klingt, und verweist dafür auf 17 Filme als Beispiele. Elisabeth Sommerlad sieht den Spielfilm TANGERINE als Produktion eines (inter-)kulturell doppelt imaginierten Sehnsuchtsraums. Roman Mauer verbindet Tanger und Detroit in Jim Jarmuschs ONLY LOVERS LEFT ALIVE als topographische Spiegelung und intertextuellen Echoraum. Marcus Stiglegger formuliert sieben Thesen zum mythischen Raum im Film. Die meisten Texte haben einen hohen theoretischen Anspruch. Mit Abbildungen. Erschienen bei Springer VS. Mehr zum Buch: book/9783658230074

DIE KUNST DER PANTOMIME (1951/52)

Er war einer der großen Panto-mimen des 20. Jahrhunderts. Marcel Marceau (1923-2007) hat sein Publikum durch den Ausdruck seines Gesichts, das Spiel seiner Hände, die Bewegungen seines Körpers fasziniert. Darin sah er ein Urelement des Komödianti-schen. Als er Anfang der 1950er Jahre in Deutschland gastierte, hat der DEFA-Regisseur Wolfgang Schleif mehrere Auftritte filmisch dokumentiert. Sie wurden nur selten gezeigt und gerieten in Vergessenheit. Jetzt sind sie in restaurierter Form auf einer DVD zu sehen, die bei Absolut Medien erschienen ist. DER MANTEL (32 min) ist die Adaption eines Theaterstücks von Gogol, die Marceau mit seiner Compagnie realisiert hat. DER SONNTAGSMALER (14 min.) zeigt, wie Marceau als Freiland-Maler eine Dame umwirbt. DIE KUNST DER PANTOMIME (23 min.) kombiniert STILÜBUNGEN und BIP-PANTOMIMEN. Zu den Extras gehören sechs Wochenschau-Ausschnitte aus den Jahren 1951 bis 1969. Ein beeindruckender Blick in die Theatergeschichte. Mehr zur DVD: Die+Kunst+der+Pantomime

NUR EINE FRAU (2019)

Die Deutschtürkin Hatun Aynur Sürücü, Mutter eines fünfjähri-gen Kindes, wurde in Berlin auf offener Straße von ihrem Bruder erschossen. Der „Ehrenmord“ geschah 2005. Matthias Deiß und Jo Goll haben darüber ein Buch geschrieben, das die Grundlage für den Film von Sherry Hormann liefert. Die Protagonistin erzählt wichtige Phasen ihres Lebens in einer Rückblende, der Film beginnt mit dem Blick auf eine zuge-deckte Leiche und den Sätzen „Das bin ich. Mein Bruder hat mich erschossen.“ 1998 muss Aynur in Berlin auf Wunsch ihrer Eltern das Gymnasium verlassen, sie wird in der Türkei verheiratet, flieht hochschwanger zurück zu ihren Eltern und kann sich bei einer Freundin von der Familie befreien. Aber ihre Emanzipation wird am Ende bestraft. Der Film ist beeindruckend in der Bildsprache (Kamera: Judith Kaufmann) und der Montage (Bettina Böhler), Almila Bagriacik hat als Aynur große Momente. Bei EuroVideo ist jetzt die DVD des Films erschienen. Zu den Extras gehören Interviews mit der Regisseurin Sherry Hormann und der Produzentin Sandra Maischberger. Mehr zur DVD: nur-eine-frau,tv-kino-film.html

Cinemas

Die Fotografin Margarete Freudenstadt hat in der Nachwendezeit Kinos der ehemaligen DDR dokumen-tiert und im Mai 2019 Kinos aus dem heutigen Kuba. „From Babylon Berlin to La Rampa Havana“ heißt ihr Buch im Untertitel. Die Fotografien haben eine beeindruckende Qualität, weil sie die Gebäude (innen und außen) nicht nostalgisch verklären, sondern ihren jeweiligen Zustand im Bild festhalten. Die Kapitel Kuba und Deutschland sind getrennt. Eine optische Verbindung wird nicht hergestellt. Die Unterschiede sind groß. Fünf Texte informieren über Hintergründe: „Das Kino als Illusionsraum“ von Christoph Wagner (Herausgeber des Buches), „Havannas vergessene Filmpaläste“ von Michael M. Thoss, „Utopie und Melancholie in Havanna“ von Peter Krieger, „Die Stille der Dinge“ von Barbara Muhr (über Margarete Freudenstadts Fotografien verlassener Orte zwischen Erwartung und Hoffnung, besonders lesenswert), „Von Sovexport zur DFEA“ von Gerald Dagit (über Kinostrukturen in der DDR); alle Texte in Englisch und Deutsch. Mehr zum Buch: cinemas-1989/

Mein Filmbuch des Jahres 2019

Zwölf Filmbücher des Monats habe ich auch in diesem Jahr wieder vorgestellt. Eines davon mache ich traditionell zu meinem Filmbuch des Jahres. In die engste Wahl kommen diesmal die Monografie von Ines Bayer über Anthony Mann, der Gesprächsband von Grit Lemke über Volker Koepp und das Buch von Paul Duncan über sämtliche Filme von Alfred Hitchcock. Duncans Buch, erschienen im Taschen Verlag zum 120. Geburtstag des Regisseurs, ist mein Filmbuch des Jahres, weil hier auf hervorragende Weise ein Lebenswerk erschlossen wird, mit dem man bestens vertraut zu sein glaubt, aber immer wieder zu neuen Erkenntnissen kommt. Herausragend: Zahl und Qualität der Abbildungen auf den insgesamt 688 Seiten. – Außer Konkurrenz in meinem Wettbewerb sehe ich das fünfbändige Werk von Alison Castle über Jacques Tati, da es mit 185 € in der Champions League angesiedelt ist und in englischer Sprache publiziert wurde. Mehr zu meinem Jahresbuch: alfred-hitchcock/