HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT (2019)

Ein herausragender Dokumen-tarfilm von Thomas Heise. Man sollte sich dreieinhalb Stunden Zeit nehmen, um ihn konzen-triert anzuschauen. Erzählt wird die Geschichte einer Familie aus Deutschland vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Wir erleben einen Dialog des Persönlichen mit dem Politischen, wir sehen eine Collage unterschiedlichster Bilder, wir hören die Stimme des Autors, der als Enkel auf Spurensuche geht. Seine Großmutter Edith war Bildhauerin, sein Großvater Wilhelm Literatur-wissenschaftler und Pädagoge, seine Mutter Rosemarie war Germanis-tin, sein Vater Wolfgang wurde Philosophieprofessor in der DDR und mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Aus dem Familienarchiv konnte Thomas Heise unterschiedlichstes Material für seinen Film schöpfen: Schulaufsätze, Briefwechsel, Zeitungsartikel, Tagebücher, Notizen, Fotos. Sie sind mit aktuellen Bildern kombiniert. Immer wieder fahren Züge durch den Film. Wir hören ein Gespräch zwischen Heiner Müller und Wolfgang Heise, das Thomas im November 1986 mitgeschnitten hat. Es geht dabei u.a. um Brecht und sein Fatzer-Stück und deutsche Geschichte. Der Titel des Dokumentarfilms ist gut formuliert. Was ich nicht verstehe: dass der Film von Thomas Heise nicht als bester Dokumentarfilm des Jahres preisgekrönt wurde. Bei good!movies ist inzwischen die DVD des Films erschienen. Unbedingt zu empfehlen. Mehr zur DVD: heimat-ist-ein-raum-aus-zeit.html oder Raum%20aus%20Zeit

Diagonale 2020

Das österreichische Festival „Diagonale“ in Graz musste in diesem Jahr aus bekannten Gründen abgesagt werden. Der Katalog zum Festival ist eine beeindruckende Dokumentation des aktuellen Films in Öster-reich mit Blicken in die Vergan-genheit. Die für den Wettbe-werb vorgesehenen Titel (kurze und lange Spielfilme, kurze und lange Dokumentarfilme) wer-den sehr anschaulich beschrie-ben (S. 30-159). Fünfzig Filme waren für die Sektion „Innova-tives Kino“ vorgesehen (S. 160-218). Eine Werkschau sollte Jessica Hausner würdigen (S. 220-237). Themen der Historischen Specials sollten „Sehnsucht 2020 – eine kleine Stadterzählung“ und „Displaced Persons“ sein (S. 238-273). Als Rahmenprogramm waren ORF-Pre-mieren, Buchpräsentationen, Ausstellungen, das traditionelle Bran-chentreffen, Workshops und Diskussionen geplant (S. 274-311). Zu den Autorinnen und Autoren gehören Alejandro Bachmann, Sebastian Höflinger, Christoph Huber, Dominik Kamalzadeh, Michelle Koch, Michael Loebenstein, Brigitte Mayr und Michael Omasta. Ich habe die Diagonale in Graz nie besucht. Der Katalog des Festivals, das nicht stattfinden konnte, beweist, dass dies ein Fehler war. Mehr zum Buch: buch/diagonale-20

Death Wish – Ein Filmbuch sieht rot

DEATH WISH – deutsch: EIN MANN SIEHT ROT – war 1974 der Auslöser für eine Welle von Filmen zum Thema Selbstjustiz. Charles Bronson spielte damals den Familienvater Paul Kersey, dessen Frau von jugendlichen Kriminellen getötet und dessen Tochter traumatisiert wird. Er taucht in das Nachtleben von New York ein und nimmt syste-matisch Rache an Verbrechern, was ihm den Beifall der Bevöl-kerung einbringt. Am Ende lässt ihn die Polizei nach Chicago reisen. In den folgenden Jahren nahm Charles Bronson als Paul Kersey fünfmal das Gesetz in die eigenen Hände, zuletzt 1994 in DEATH WISH V – ANTLITZ DES TODES. Das Buch von Dominik Starck, Florian Wurfbaum & Kevin Zindler ist ein kleiner Führer durch die Welt der Selbstjustiz-Filme mit vielen Informationen über Charles Bronson, den Autor Brian Garfield, die Regisseure Michael Winner, J. Lee Thompson und Eli Roth, die Schauspieler Ed Lauter, Michael Parks, Bruce Willis, die Schauspielerin Jill Ireland und alle DEATH WISH-Filme bis 2018. Mehr zum Buch: death-wish-ein-filmbuch-sieht-rot

Matrix-Liebe

Die drei MATRIX-Filme der Geschwister Wachowski – THE MATRIX (1999), THE MATRIX RELOADED und THE MATRIX REVOLUTIONS (beide 2003) – sind als Trilogie ein Universum, das zur Erforschung einlädt. Einen ersten, beeindruckenden Versuch hat Georg Seeßlen unternommen: „Die Matrix entschlüsselt“, publiziert bei Bertz + Fischer 2003. Da dem-nächst eine Fortsetzung der Filmreihe erfolgt (geplant für 2022), ist Traian Suttles erneut auf Spurensuche gegangen und entschlüsselt auf 220 Seiten die Ideenwelt der drei Filme. Dies gelingt ihm erstaunlich gut, weil er in seinen Beschreibungen nahe in den Filmen bleibt und die Figuren, die Dramaturgie und die philosophisch-theologischen Aspekte intelligent miteinander verknüpft. Neo, Morpheus, Trinity, Agent Smith und das Orakel werden in ihren überraschenden Entwicklungen erkennbar gemacht, wobei der Autor die vorhandene Literatur durchaus einbezieht. Nicht nur für Fans der Trilogie eine interessante Lektüre. Ohne Abbildungen. – Traian Suttles hat 2017 eine Sherlock Holmes-Studie „“Drogenrausch und Deduktion“) publiziert, im August wird sein neues Buch „Virus“ erscheinen“.

Vom Handlungsraum zum Filmbild

Neun Beiträge einer Tagung zur Szenographie der Antike sind in diesem Band dokumentiert, den Annette Dorgerloh, Marcus Becker und Ulf Jensen heraus-gegeben haben. Von Martin M. Winkler stammt ein englisch-sprachiger Beitrag über „The Retoric of Architecture in Hollywood’s Roman Empire“. Stefan Altekamp richtet seinen Blick auf Schauplätze und Aus-stattung in Pasolinis Film EDIPO RE. Christian C. Schnell beschreibt die Landschaft als szenographischen Raum in der Ilias-Verfilmung SINGE DEN ZORN von Antje Borchardt und Matthias Merkle. Marcus Becker äußert sich zur skulpturalen Ausstattung von Antike im frühen italienischen Film. Annette Dorgerloh untersucht die Szenographie des DEFA-Kinderfilms DER STREIT UM DES ESELS SCHATTEN von Walter Beck. Martin Lindner befasst sich mit Parodien in der Entwicklung des Antikfilms. Karsten und Judith Ley stellen raumhistorische Überlegungen zu vier urbanen Topoi in TV-Miniserien über das antike Rom an. Kristina Jaspers beschreibt Storyboards für den antiken Monumentalfilm. Ulf Jensen entdeckt szenographische Differenzen im Antikfilm am Beispiel von Pompeji. Alle Beiträge haben ein hohes Niveau. Mit Abbildungen in sehr guter Qualität. Band 4 der Reihe „Scenographica“.Mehr zum Buch: vom_handlungsraum_zum_filmbild-1941.html

DOKTOR FAUSTUS

Ausgangspunkt ist der Roman von Thomas Mann, publiziert 1947, geschrieben im amerika-nischen Exil. Erzählt wird das Leben des deutschen Kompo-nisten Adrian Leverkühn aus der Sicht seines Freundes, des Gymnasialprofessors Serenus Zeitblom. Der genialische Schaffensdrang des Kompo-nisten verbindet sich mit romantischer Todesmystik. Mit einer Geschlechtskrankheit infiziert, zu Liebebeziehungen nicht fähig, investiert er alle Energien in ein Oratorium, bei dessen Auftakt er tot zusammenbricht. Filmjuwelen hat jetzt zwei Fassungen als DVD publiziert: den TV-Dreiteiler von 176 Minuten und den gekürzten Kinofilm, der ursprünglich 137 Minuten lang war und auf der DVD 117 Minuten dauert. Knapp vierzig Jahre nach der Premiere kann man damit unterhaltsam seine Zeit verbringen und begegnet vielen prominenten Darsteller*innen, darunter Jon Finch als Adrian Leverkühn, André Heller als Satan, Hanns Zischler als Serenus Zeitblom, Margot Hielscher als Senatorin, der Autor und Verleger Lothar-Günther Buchheim als Dr. Erasmi, Gaby Dohm als Adrians Mutter, Balduin Baas, Veronika Fitz, Herbert Grönemeyer, Elma Karlowa, Hans Korte und Otto Mächtlinger. Die Musik stammt von Benjamin Britten und Rolf Wilhelm. Produziert und inszeniert hat Franz Seitz jr. (1921-2006), der auch das Drehbuch schrieb. Informativ sind zwei Filme von Robert Fischer als Bonus-Material: TEUFELS-BÜNDE: DICHTUNG UND WAHRHEIT IN THOMAS MANNS DOKTOR FAUSTUS (55 Minuten) und Erinnerungen von Peter Seitz (15 Minuten). Das Booklet hat Oliver Bayan verfasst. Mehr zur DVD: doktor-faustus-der-komplette-dreiteiler-extended-version-2-dvds

Das große Gojko Mitić Erinnerungsalbum

Vor einer Woche feierte er in Köpenick seinen 80. Geburts-tag. Gojko Mitić wurde, begin-nend mit dem Film DIE SÖHNE DER GROSSEN BÄRIN, ab Mitte der 1960er Jahre zu einem der großen DEFA-Stars. Er spielte die Hauptrolle in zwölf Indianer-Filmen, dem Kontrast-Pro-gramm zu den westdeutschen Karl-May-Filmen. In Jugos-lawien geboren, spricht er perfekt Deutsch und über-nahm erste kleine Rollen in Karl-May-Filmen, die von Artur Brauner und Horst Wendland pro-duziert wurden. Seine Partner waren damals u.a. Pierre Brice und Lex Barker. Als seine größten Erfolge bei der DEFA gelten CHINGACH-GOOK, DIE GROSSE SCHLANGE (1967), OSCEOLA (1971), APACHEN (1973) und BLUTSBRÜDER (1975). Nach der Wende war Mitić viele Jahre der Winnetou-Darsteller bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg. Das informative Erinnerungsbuch stammt von Uli Jeschke und ist im Verlag Bild und Heimat erschienen. Mit vielen Abbildungen in sehr guter Qualität. Mehr zum Buch: mitic-erinnerungsalbum.html

Masse & Apokalypse

Eine Dissertation, die an der Universität Bonn entstanden ist. Yannic Han Biao Federer untersucht darin „die narrative Entfaltung einer autoritären Konstruktion im Zombie-Genre“. Es handelt sich hier nicht um eine film- oder medienwissenschaftliche Lektüre des Genres, „sondern um die theoretisch informierte Analyse eines autoritären Konstrukts, das im Verlauf der Genregeschichte auf je unter-schiedliche Weise zur Entfal-tung kommt.“ (S. 11/12). Es geht um eine „politisierbare Kopplung von Masse und Apokalypse“. Theoretische Bezugspersonen sind Carl Schmitt, Gustave Le Bon und Sigmund Freund. Der Prozess verläuft „vom apokalyptischen Ende der Ordnung zum Naturzustand der Masse“. Dies wird – nach einer kurzen Genre-Geschichte – im ersten, 55-seitigen Theorie-Teil in den Blick genommen. Der zweite, 90-seitige Analyse-Teil ist dreistufig: Kontrolle und Kontrollverlust (Von WHITE ZOMBIE zu NIGHT OF THE LIVING DEAD), Kontrollverlust und Untergang (NIGHT OF THE LIVING DEAD und DAWN OF THE DEAD), Nach dem Untergang (28 DAYS LATER und THE WALKING DEAD). Die Filme von George A. Romero nehmen eine Schlüsselstellung ein. Dabei werden auch wichtige mediale Erkenntnisse vermittelt. Keine Abbildungen. Mehr zum Buch: number=978-3-8376-4823-2

Von Bettlern, Waisenkindern und Dienstmädchen

Eine Dissertation, die an der Universität Trier entstanden ist. Caroline Braun untersucht darin Armutsdarstellungen im frühen Film und ihren Anteil an der Etablierung der Kinos in Deutschland. Vier Kapitel bilden die Struktur: 1. Fiktionale Armutsdarstellungen im frühen Film 1907-1913. Da die wenigsten der damaligen Filme erhalten sind, liefern Filmbe-schreibungen der Branchenzeit-schrift Der Kinematograph das Untersuchungsmaterial. 2. Ar-mut im frühen Kurzspielfilm – Wiederkehrende Topoi und stereotype Charaktere? Es geht um Bettler und Vagabunden, Weihnachten und Wohltätigkeit, Arbeiter und die soziale Frage, Armut als Unterhaltung. 3. Frauenarmut im langen Spielfilm. Hier sind große Veränderungen in den sozialen Dramen festzustellen. 4. Mit der Armut zum Star? – Wie die Inszenierung von Frauenarmut zum Erfolg weiblicher Filmstars beitrug. Natürlich stehen hier Asta Nielsen und Henny Porten im Vordergrund der Analysen. Wichtige Filme zum Thema sind DIE ARME JENNY, HEISSES BLUT, IN DEM GROSSEN AUGENBLICK, DIE SÜNDEN DER VÄTER, alle mit Asta Nielsen, MÜTTER, VERZAGET NICHT! und DIE TRAGÖDIE EINES SREIKS mit Henny Porten. Die Analysen von Caroline Braun sind stichhaltig, 813 Quellenverweise sichern den Text wissenschaftlich ab. Mit 90 kleinen Abbildungen in zumeist guter Qualität. Band 25 der Reihe „Filmgeschichte International“, herausgegeben von Uli Jung. Mehr zum Buch in einer Rezension von Jan-Christopher Horak: MEDRez_2020-01_Heft_.pdf?sequence=2 , S. 72-74.

Den Glauben an die Welt mit dem Wahnsinn bezahlen

Eine Masterarbeit, die an der Universität Mainz entstanden ist. Die Reflexionen von Chri-stian Alexius zum postklassi-schen Kino basieren auf der These von Gilles Deleuze, dass der Preis, den es für die Wieder-herstellung des Glaubens an die Welt zu bezahlen gilt, der Wahnsinn sei. Entsprechend richtet der Autor seinen Blick auf die mindgame movies, lässt sich filmtheoretisch u.a. von Thomas Elsaesser und Oliver Fahle leiten, unternimmt eine kleine Reise durch die Film-geschichte, verweist auf DER ANDERE von Max Mack (1913), GEHEIMNISSE EINER SEELE von G.W. Pabst (1926), SPELLBOUND von Alfred Hitchcock (1945), BIGGER THAN LIFE von Nicholas Ray (1956), WIE IN EINEM SPIEGEL von Ingmar Bergman (1961), ANGST VOR DER ANGST von Rainer Werner Fassbinder (1975) und viele andere Filme auch aus jüngerer Zeit. Ein eigenes Kapitel ist Gilles Deleuze und der Katholizität des Kinos gewidmet. Beeindruckend: die Analyse des südkoreanischen Filmbeispiels I’M A CYBORG, BUT THAT’S OKAY (2006) von Park Chan-wook, der in einer Nervenheilanstalt spielt und eine Patientin als Hauptfigur hat, die sich für einen Cyborg hält. Ein lesenswertes Buch über den Wahnsinn im Film. Keine Abbildungen. Band 80 der Reihe „Filmstudien“, herausgegeben von Oksana Bulgakowa und Norbert Grob. Mehr zum Buch: mit-dem-wahnsinn-bezahlen-id-86887/