PARIS CALLIGRAMMES (2020)

Ulrike Ottinger unternimmt für ihre Dokumentarfilme gern Reisen in ferne Länder, nach China, in die Mongolei oder nach Korea, und erschließt dort mit der Kamera den kulturellen Reichtum der Vergangenheit und Gegenwart. Ihr neuester Film ist eine Zeitreise in das Paris der 1960er Jahre. Sie lebte und arbeitete dort als Malerin, lernte im Atelier von Johnny Friedlaender die Technik der Radierung und war Stammgast in der antiquarischen deutschen Librairie Calligramme von Fritz Picard, einem Treffpunkt von Künst-lerinnen und Künstlern. Der autobiografische Film verbindet Material aus Spiel- und Dokumentarfilmen mit Kommentaren von Ulrike, die sich an ihre damaligen Erlebnisse erinnert. Es geht um Orte und Straßen, um Menschen, den Alltag, die Künste und politische Auf-brüche, die damals in Frankreich auch zu brutalen Auseinander-setzungen führten. Der Algerienkrieg und die Studentenrevolte waren prägend für die Zeit. Es ist beeindruckend, wie die Bilder und der Kommentar eine Zeit präsent machen, die über fünfzig Jahre zurück-liegt. Montage: Anette Fleming, Musik: Detlef Schitto, Produktion: Thomas Kufus (zero one film) + ZDF. Der Film hatte seine Premiere bei der Berlinale 2020, jetzt ist bei good!movies die DVD erschienen. Unbedingt sehenswert. Mehr zur DVD: goodmovies.de/paris-calligrammes.html

Marguerite Duras – Jean-Luc Godard: Dialoge

Dreimal haben die Schrift-stellerin Marguerite Duras (1914-1996), die auch Filme realisiert hat, und der Regisseur Jean-Luc Godard (*1930), der auch Bücher publiziert hat, ausführlich miteinander ge-sprochen. Die Begegnungen fanden 1979, 1980 und 1987 statt. Die damals aufgezeichne-ten Dialoge sind jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlicht worden. Thematisiert werden Fragen nach dem Verhältnis zwischen Schrift und Bild, Erinnerungen an die Kindheit, die Historie der Konzentra-tionslager, der Inzest, die Rolle des Fernsehens, die Bedeutung der Musik und vieles mehr. Es gibt eine große Nähe zwischen Duras und Godard. Vor dem zweiten Gespräch hat sie in dem Band „Die grünen Augen“ ihre Texte zum Kino publiziert und er seine „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“ veröffentlicht. Die Lektüre der Dialoge ist außerordentlich spannend. Der Herausgeber Cyril Béghin hat alle drei Gespräche mit umfangreichen Anmerkungen versehen sowie eine Einführung und ein Nachwort geschrieben. Von Jean Cléder stammt ein informativer 30-Seiten-Essay zu den Gesprächen im Anhang. Mit zwölf Fotos vom dritten Gespräch, das in Duras’ Wohnung in Paris stattfand. Mehr zum Buch: https://spectorbooks.com/dialoge

High Definition

Eine Dissertation, die an der Universität Bochum entstanden ist. Elisa Linseisen untersucht darin die Denk- und Wahrneh-mungswelt in der digitalbildli-chen Hochauflösung. Sechs Kapitel strukturieren das Buch. 1. High Definition. Begriffsklä-rungen und medienphilosophi-sche Reflexionen. 2. Post/Pro-duzieren. Digitale Medien-immanenz und Pixel-Forensik. 3. Um/Formatieren. Algorith-mische Perzeption und Er-schöpfung. 4. Interpolieren. One-Takes in tiefe Bildflächen – Menschen in Tiefenzeit einfügen. 5. Epistemologisch Zoomen. 6. Hochaufgelöste Horizonte. Zu den Regisseuren, deren Filme beispielhaft analysiert werden, gehören David Fincher, Patricio Guzmán, Alejandro González Inárritú und vor allem Terrence Malick. Auch das künstlerische Werk von Hito Steyerl spielt ein wichtige Rolle. Der Text bewegt sich auf einem hohen medienphilosophischen Niveau. Mit Abbildungen in sehr guter Qualität. Mehr zum Buch: meson.press/books/high-definition/

Mit Bands auf Tour

Eine Dissertation, die an der Universität Siegen entstanden ist. Anna Lisa Ramella hat eine „Medienethnographie des Unterwegsseins“ erarbeitet. Sechs Kapitel strukturieren den Text: Wege ebnen (Ethnologi-sche Feldforschung auf Tour) – Unterwegs sein (Orte und Ver-bindungen einer Musiktour) – Datenbewegungen (Musik und Medien auf Tour) – Bewegungs-taktung (Rhythmisierungen von Aufgaben und Zeit) – Einrich-ten der Bewegung (’Zuhause’ als Praktik und Vorstellung) – Un/bewegt sein (Selbstveror-tung durch Musik und Klang). Die Autorin hat für ihre Untersuchung die Band Broncho über einen Zeitraum von vier Jahren auf verschie-denen Touren durch Europa begleitet. Ihre Beschreibungen sind sehr konkret und ordnen sich gut den oben genannten Kapiteln zu. Als Leser erfährt man viel über Rollenverteilung, Abläufe und mediale Übertragung. Im Vorwort verweist die Autorin auf die aktuelle Situation, in der die Welt der Touren zu einem Stillstand gekommen ist. Das gibt Zeit zum Nachdenken. Mehr zum Buch: mit-bands-auf-tour/?number=978-3-8376-4813-3

Maria Lassnig

Maria Lassnig (1919-2014) war eine österreichische Malerin und Medienkünstlerin, die in den 1960er Jahren in Paris und in den 1970ern in New York ge-lebt und gearbeitet hat. Ihrem filmischen Werk ist ein Buch gewidmet, das Eszter Kondor, Michael Loebenstein, Peter Pakesch und Hans Werner Poschauko in der gemeinsamen Publikationsreihe von Film-museum/Synema herausge-geben haben. Persönliche Re-miniszenzen von Künstlerinnen, Künstlern und Filmschaffenden eröffnen den Band. James Boaden beschäftigt sich in einem Essay mit ihren wichtigsten Filmen. Michael Loebenstein, Mara Mattuschka und Hans Werner Poschauko sprechen über ihren filmischen Nachlass. Beatrice von Bormann befasst sich mit Lassnigs ANTI-KRIEGSFILM. Auf 80 Seiten sind Filmnotizen von Maria Lassnig faksimiliert. Eine Filmografie kommentiert die „Kanoni-schen Filme“, die Filme mit „Werkstatus“ und unveröffentlichte Filme. Ein vorbildlich edierter Band über eine wichtige Künstlerin. Eine beigefügte DVD enthält eine Auswahl der „Films in Progress“. Mehr zum Buch: maria-lassnig-das-filmische-werk.htm

Wolfgang Kohlhaase – Jubiläumsedition

Was für ein schönes Geschenk zu seinem 90. Geburtstag! Bei Ice-storm ist jetzt eine DVD-Box mit 12 DEFA-Filmen erschienen, zu denen Wolfgang Kohlhaase die Dreh-bücher geschrieben hat: DIE STÖ-RENFRIEDE (1953), ALARM IM ZIRKUS (1954), EINE BERLINER ROMANZE (1956), BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER (1957), DER FALL GLEIWITZ (1961), BERLIN UM DIE ECKE (1965), ICH WAR NEUNZEHN (1968), DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (1974), MAMA, ICH LEBE (1976), SOLO SUNNY (1980), DER AUFENTHALT (1982), DER BRUCH (1989). Zu den Extras gehören Gespräche mit Andreas Dresen, Ernst-Georg Schwill, Annekathrin Bürger, Günther Rücker, Kaspar Eichel, Jaecki Schwarz, Ursula Werner, Peter Prager, Eberhard Geick. Das Booklet enthält einen Essay von Regine Sylvester und eine Filmografie von Ralf Schenk. Beigefügt sind die Neuauflage des Buches „Um die Ecke in die Welt“ und eine DVD des Films INGE, APRIL UND MAI (1992). So erschließt sich ein Lebenswerk. Überwältigend! Mehr zur DVD-Box: www.icestorm.de/neuheiten/

Wolfgang Kohlhaase 90

Heute wird der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase 90 Jahre alt. Ich gratuliere ihm dazu herzlich und umarme ihn mit dem zurzeit vorgeschrieben Abstand. Wir kennen uns seit 33 Jahren. Sein lakonisches, nachdenkliches, aber auch spontanes, originelles Reden und Schreiben bewundere ich sehr. Er hat zu mehr als 30 Filmen die Drehbücher ge-schrieben. Meine Favoriten sind ICH WAR NEUNZEHN und SOLO SUNNY von Konrad Wolf, SOMMER VORM BALKON von Andreas Dresen, aber auch DIE STILLE NACH DEM SCHUSS von Volker Schlöndorff. Zum Geburtstag ist der Band „Um die Ecke in die Welt“ mit Texten und Gesprächen über Filme und Freunde in einer aktualisierten Neuausgabe erschienen. Die ältesten Texte stammen aus seiner Volontärszeit 1949 bei der Zeitschrift Start, der jüngste ist seine Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Erzähl mir, Augenblick“ im Willy-Brandt-Haus am 13. Februar 2020. Insgesamt kann man jetzt 70 Texte lesen. Bewegend: die Trauerrede auf seinen Vater, der 1995 im Alter von 92 Jahren verstarb. Ich wünsche Wolfgang noch viele Jahre an der Seite seiner wunderbaren Frau Emöke. Mehr zum Buch: 2379-um-die-ecke-in-die-welt.html

Bei Wagenbach ist zum Ge-burtstag eine Neuausgabe der gesammelten Erzählungen von Wolfgang Kohlhaase erschie-nen, die erstmals 1977 im Auf-bau Verlag publiziert wurden. Damals war der Titel „Silvester mit Balzac“. Jetzt heißt der Band „Erfindung einer Sprache“. Die Titelgeschichte nahm der Regisseur Vadim Perelman als Basis für seinen Film PERSISCHSTUNDEN. 13 Erzählungen sind hier versammelt, darunter „Inge, April und Mai“ (von Kohlhaase selbst 1992 verfilmt), „Begräbnis einer Gräfin, „Immer icke“ und „Lasset die Kindlein…“. Lektüre für ein schönes Wochenende. Mit einem Nachwort von Andreas Dresen. Mehr zum Buch: 1287-erfindung-einer-sprache-und-andere-erzaehlungen.html

Die 11 Erzählkonzepte

Ein Lehrbuch für Studierende, Profis und Filminteressierte, das in die Prinzipien des filmischen Erzählens einführt. Philipp Knauss öffnet elf Schubladen der Narration. 1. Die Gewusst-Wie-Geschichte: Das schafft der nie! 2. Die Plausibilisierung: Was zur Hölle ist hier los? 3. Die Liebes-geschichte: Zwei Menschen. 4. Die Hermetische Welt: Ich muss hier raus! 5. Worldbuilding: Wir machen eine Reise in ein fernes Land.   6. Whodunit: Da wäre ich nie drauf gekommen! 7. Die Was-Wäre-Wenn-Prämisse: Es war einmal. 8. Der Historische Film: Es war einmal. 9. Die Exploitative Geschichte: Ich will es sehen! 10. Filme mit übergeordnetem Zweck: Kann man machen. 11. Synthetische Narration: Los hier ist die Hölle zur was? Zu allen elf Konzepten wird die Zahl der Titel in der Top-250-Liste bei imdb.com genannt. Die meisten (91) findet man bei der Was-Wäre-Wenn-Prämisse, die wenigsten (0) bei Filmen mit übergeordnetem Zweck. Gefühlt 200 Filme werden im Text für die unterschiedlichen Erzählzusammenhänge als Beispiele herangezogen. Interessante Lektüre. Man kann viel daraus lernen. Mehr zum Buch: die-11-erzählkonzepte-45449/

Faces – Die Macht des Gesichts

In der Albertina in Wien ist zurzeit die Ausstellung „Faces – Die Macht des Gesichts“ zu sehen. Im Mittelpunkt stehen Foto-grafien von Helmer Lerski aus dessen Serie „Metamor-phosen“, die 1935/36 in Palästina entstand. Der hervorragende Katalog, herausgegeben von Walter Moser, ist im Hirmer Verlag erschienen. Zu sehen sind dort auch Porträtfotos von Lotte Jacobi, August Sander, Willy Zielke und vielen anderen. Sechs sehr lesenswerte Essays stammen von Astrid Mahler (Helmar Lerski im Kontext der Erneuerung des Porträts), Matthew S. Witkovsky (Lerskis Verwandlungen durch Licht), Walter Moser (Helmar Lerskis Fotografien als Experimentierfeld für den Film), Monika Faber (Zur Fragmentierung des Gesichts bei Helmar Lerski), Florian Ebner (Die Determiniertheit des Menschen in August Sanders Werk) und Elizabeth Cronin (Rudolf Koppitz, Erna Lendvai-Dircksen, Erich Retzlaff). Ein fundamentales Buch zur Veränderung der Porträtfotografie in der Weimarer Republik und die daraus entstehenden Konsequenzen für Helmer Lerski, der 1948 aus Palästina nach Zürich zurückkehrte, wo er 1956 im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Mehr zum Buch: the_power_of_the_human_visage-2076/

Memoiren und Falschinformationen

Dies ist keine Autobiografie des Schauspielers Jim Carrey, son-dern ein Roman, den Carrey zusammen mit dem Satiriker Dana Vachow verfasst hat. Er nimmt uns mit auf eine Reise ins Innere von Hollywood, wo sich der Protagonist in unter-schiedlichsten Konstellationen mit prominenten Kolleginnen und Kollegen zusammenfindet. Ein Erzählstrang: der Autor Charlie Kaufman will Carrey als Hauptdarsteller eines Films über Mao Zedong verpflichten, überredet ihn zu einer Fress-orgie, probt zusammen mit Anthony Hopkins und macht Hoffnung auf den Oscar als bester Hauptdarsteller. Bei einem Guru namens Natchez Gushue meditiert er zusammen mit Goldie Hawn, Sofia Coppola, Gwyneth Paltrow und Sissy Spacek. Paltrow möchte gern ein Schwein sezieren. In einem Jiu-Jitsu-Kampf tritt Carrey gegen Nicolas Cage an. Hasbro und Disney wollen mit Carrey ein Plastik-Kinderspiel verfilmen. Zwischendurch denkt Carrey viel an den Tod, verliebt sich in ein TV-Starlet, das er heiratet und hat eine Affäre mit einem Marilyn-Monroe-Double. Das Durcheinander ist groß, es gibt skurrile Augenblicke und lange Strecken ohne Pointen. „Wer war Jim? Was würde ein Jim überhaupt sein, wenn Jim letztlich nur die Schöpfung einer Milliarde fremder Köpfe war?“ Diese beiden Fragen werden nicht beantwortet. Mehr zum Buch: memoiren-und-falschinformationen-9783426282588