Kino der Sprachversionen

Als Ende der 20er Jahre der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm stattfand, war kurz-fristig die Internationalität des Mediums bedroht. Ein Ausweg waren zunächst die Sprach-versionen. Jessica Berry beschreibt in ihrer Studie zunächst, welche anderen Möglichkeiten ausprobiert wurden (unbearbeitete Original-versionen, Übersetzung in schriftlichen Untertiteln, polyglotte Filme, Synchronisa-tion). Dann vergleicht sie die Versionen von vier ausgewählten Filmen jener Jahre, die alle von Erich Pommer produziert wurden: DER BLAUE ENGEL / THE BLUE ANGEL von Josef von Sternberg, DIE DREI VON DER TANKSTELLE / LE CHEMIN DU PARADIS von Wilhelm Thiele, DIE DREIGROSCHENOPER / L’OPÉRA DE QUAT’SOUS von G.W. Pabst und SONNENSTRAHL / GARDEZ LE SOURIRE von Paul Fejos. Ihre Beobachtungen lesen sich sehr konkret und sind anschaulich formuliert. Hinzugefügt sind jeweils die Wahrnehmungen der Filme in der zeitgenössischen Presse. Das Buch liefert auf 120 Seiten viele interessante Informationen. Coverabbildung: Hans Albers, Conrad Veidt. Charles Boyer. Hauptdarsteller der deutschen, englischen und französischen Version des Films F.P.1 ANTWORTET NICHT. Mehr zum Buch: sprachversionen.html

Berlinerinnen

13 Frauen, „die die Stadt bewegten“, werden in diesem kleinen, aber höchst lesens-werten Buch von Barbara Sichtermann und Ingo Rose porträtiert: die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, die Ärztin Franziska Tiburtius, die Dichterin Else Lasker-Schüler, die Sozialarbeiterin Alice Salomon, die Sängerin und Kabarettistin Claire Waldoff, die Malerin Jeanne Mammen, die Schriftstellerin Gabriele Tergit, die Tänzerin Anita Berber, die Schauspielerinnen Helene Weigel, Marlene Dietrich und Hildegard Knef, die Pharmakologin und Politikerin Regine Hildebrandt, die Sängerin und Schauspielerin Nina Hagen. Jeder dieser 13 Berlinerinnen sind rund zehn Seiten gewidmet, auf denen ihr Leben und Wirken knapp und pointiert erzählt wird. Eine Abbildung ruft sie optisch in Erinnerung. Nur Nina Hagen ist noch am Leben. Nach den meisten der zwölf Verstorbenen ist in der Stadt ein Platz, eine Straße, eine Promenade, ein Park oder wenigstens ein S-Bahn-Bogen benannt. Die 13 Berlinerinnen wurden für das Buch klug ausgewählt, die Lektüre ist spannend. Mehr zum Buch: 13-frauen-die-die-stadt-bewegten

Filmische Zeugenschaft im Abseits

Eine Dissertation, die an der Universität Gießen entstanden ist. Robert Stock untersucht darin „Kulturelle Dekoloniali-sierungs­prozesse und Doku-mentarfilme zwischen Mosam-bik und Portugal“. Angesichts der aktuellen kulturpolitischen Debatten zur Kolonialisierung ist das ein interessanter Aspekt. Die meisten der hier behandelten Filme sind mir nicht bekannt. Der Autor unternimmt zunächst einen Exkurs zu „(Anti-)Kolo-nialen Meistererzählungen und dokumentarischer Filmen“, schildert dann geschichts-politische Hintergründe und teilt sein Hauptthema in fünf Kapitel: „Die Indienstnahme von Zeugenschaft in Filmen der revolutionären Umbrüche“, „Filmische Zeugenschaft abseits antikolonialer Meistererzählungen“, „Filmische Zeugenschaft und die multiperspektivische Aufarbeitung kolonialer Gewalt nach 1990“, „Koloniale Ruinen als Schauplätze von Zeugenschaft“ und „Zeugenschaft als Archivkritik. Filmisch-fotografische Gedächtnis-szenen“. In der Analyse der Filme dominieren politische Aspekte, aber die Form der Filme wird nicht außer Acht gelassen. Die Kenntnis der einschlägigen Literatur ist beeindruckend. Mit kleinen Abbildungen in akzeptabler Qualität. Coverabbildung: aus dem Film NATAL 71 (1999) von Margarida Cardoso. Mehr zum Buch: 978-3-8376-4506-4

BONJOUR PARIS (2017)

Im Original heißt der Film JEUNE FEMME. Er erzählt die Geschichte der 31jährigen Paula, die aus Mexiko nach Paris zurückkehrt, von ihrem langjährigen Freund Joachim, einem Fotografen, rausge-schmissen wird und irgendwie bei Null wieder anfangen muss. In der ersten Szene will sie mit dem Kopf durch die zugeworfene Tür und wacht in der Notauf-nahme auf. Die Stirnwunde begleitet sie durch den ganzen Film. Sie braucht eine Bleibe, Geld, einen Job und Hilfe. Aber wie bekommt man das, wenn Unberechenbarkeit und Aggressivität dominierende Eigenschaften sind? Paris erweist sich als Labyrinth, aus dem Paula erst am Ende einen Ausweg findet. Der Debutfilm von Léonor Serraile hat eine große Kraft, die einerseits durch die Hauptdarstellerin Laetitia Dosch entsteht und andererseits durch die Bilder der Kamerafrau Emilie Noblet. Wir sind Teil des Geschehens und doch nur Zuschauer eines 90-Minuten-Dramas mit einer Hauptfigur. Beeindruckend! Bei absolut Medien ist jetzt in der Reihe „Femmes totales“ die DVD des Films erschienen. Mehr zur DVD: BONJOUR+PARIS

„Aus dem Licht“

Die holländische Autorin Marente de Moor erzählt in ihrem Roman aus dem Leben zweier Erfinder im Jahr 1890 und danach: Valéry Barre aus Frankreich (in Wirklichkeit hieß er Louis Le Prince) und Thomas Alva Edison aus den USA. Beide arbeiten an den technischen Voraussetzungen für die Projektion bewegter Bilder. Zunächst begleiten wir Valéry Barre auf der Reise von Dijon nach Paris, wo er sein Patent anmelden will, aber nie ankommen wird. Er verlässt die Eisenbahn unterwegs, verirrt sich in einem Provinzort, landet bei einem Pfarrer und geht schließlich auch uns Lesern verloren. Dann wechselt der Schauplatz in die USA. Hier wird die Besessenheit von Edison aus der Perspektive seiner zweiten Ehefrau Mia erzählt, die am liebsten in ihrem Gewächshaus lebt und den Ehrgeiz ihres inzwischen schwerhörigen Mannes mit Ironie zu ertragen versucht. In einem dritten Kapitel erscheint Valerys Sohn Guillaume auf der Bildfläche, der herausfinden will, wo sein Vater verblieben ist. Und am Ende wird eine originelle Verbindung zwischen Barre und Edison hergestellt. Es hat für mich hohe literarische Qualitäten, wie die Autorin den damaligen Zeitgeist beschreibt, wie sie zwischen Traum und Realität wechselt, Rückblenden einfügt und dafür sorgt, dass wir keiner Sache sicher sein können. Meike Fessmann hat in der Süddeutschen Zeitung eine sehr lesenswerte Rezension des Romans publiziert. (1.4334835 ). Mehr zum Buch: 978-3-446-26176-1/

„Marlene und die Suche nach Liebe“

Christopher W. Gortner ist ein amerikanischer Autor, dessen Spezialität historische Romane sind. Im Mittelpunkt stehen immer prominente Frauen: Königin Elizabeth I. von England, Königin Isabella I. von Kastilien, Lucrezia Borgia, Coco Chanel. 2016 erschien sein Roman „Marlene“ in den USA, die deutsche Ausgabe, übersetzt von Christine Strüh, hat jüngst der Aufbau Verlag veröffentlicht. Der erste Satz lautet: „Als ich mich das erste Mal verliebte, war ich zwölf Jahre alt.“ Es handelte sich um ihre Französischlehrerin. Der letzte Satz heißt: „Und als ich ihre Hand in meiner fühlte, so kühl und glatt, antwortete Garbo: ‚Ich weiß’.“ Das Treffen fand bei einer Party von Orson Welles statt. Der Zeitrahmen des Romans sind die Jahre 1913 bis 1945. Erzählt werden Marlenes Liebes-beziehungen zu Männern und Frauen, der Verlauf ihrer Karriere, das komplizierte Familienleben mit ihrem Ehemann Rudolf Siebert, ihrer Tochter Maria („Heidede“) und Sieberts Partnerin Tamara Matul, die verschiedenen Versuche der Nazis, sie nach Deutschland zurück-zuholen. Das faktische Gerüst ist ziemlich stabil, es tauchen all die Personen auf, die man erwartet, die Schilderung der erotischen Details ist grenzwertig. Relativ gelungen finde ich das letzte Kapitel, die Truppenbetreuung in Afrika und Europa. Insgesamt hat mir der Dietrich-Roman von Katja Kulin besser gefallen (marlene-dietrich-2/ ). Mehr zum Buch: suche-nach-liebe.html

Diktatoren im Kino

Der Literaturwissenschaftler Peter Demetz (*1922) erzählt die Lebensgeschichten von Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels und Stalin mit dem Blick auf ihre Beziehung zum Film. Wann, wo und mit wem haben sie ihre ersten Filme gesehen? Welchen Einfluss nahmen sie auf die Produktion, als sie über die entsprechende Macht verfügten? Welche Verbindungen hatten sie zu Regisseuren, Schauspielern und vor allem Schauspielerinnen? Der Autor hat zahlreiche verfügbare Quellen ausgewertet, unterscheidet zwischen glaubwürdigen und weniger glaubwürdigen, schildert Inhalte, erzwungene Veränderungen und Verbote. Jedem Diktator sind rund 40 Seiten gewidmet. Mir haben am besten die Kapitel über Mussolini und Stalin gefallen (vielleicht weil ich am wenigsten über ihre Filmverbindungen wusste). Am schwächsten finde ich das Goebbels-Kapitel, hier gibt es zu viele Redundanzen über seine Einschätzung amerikanischer Filme. Das Thema JUD SÜSS ist ausgespart. Interessant sind die Bibliografien und Quellenverweise im Anhang, die deutlich machen, wie intensiv der Autor geforscht hat. Beeindruckend ist das sehr persönliche Vorwort. Mit Abbildungen in akzeptabler Qualität. Mehr zum Buch: 978-3-552-05928-3/

Aus der Fernnähe

Wie nah kann ein Journalist Theater- und Filmkünstler*innen kommen, wenn er sie porträtiert oder interviewt? Die 25 Texte im Buch von Andreas Wilink, meist Nachrucke aus Zeitschriften oder Zeitungen, beweisen, dass eine große Nähe entstehen kann. Es gibt fünf Gruppen: „Die Meister“: das sind die Theatermenschen Jürgen Gosch, Johannes Schütz, Johan Simons, Gerard Mortier, Einar Schleef, Hans-Michael Rehberg. „Die Unbotmäßigen“: der Regisseur Herbert Fritsch, die Schauspieler Jeroen Willems und Michael Wittenborn. „Die Anti-Diven“: Margit Carstensen, Ingrid Caven, Hannelore Hoger. „Die Entflammten des Zelluloids“: Rainer Werner Fassbinder, Walter Bockmayer, Werner Schroeter, Christoph Schlingensief, Werner Nekes, Matthias Müller, Xavier Dolan. „Die Freigelassenen“: Sandra Hüller, Devid Striesow, Lina, Maja, Nils und Till Beckmann, Charly Hübner, Jana Schulz, André Kaczmarczyk. Zehn der Genannten sind inzwischen tot. Andreas Wilink hat sie alle – außer Fassbinder – persönlich getroffen. Seine Porträts sind nicht Resultate oberflächlicher journalistischer Neugier, sondern mit spürbarer Empathie geschrieben. Sie wurden in der Westdeutschen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, Theater heute, Spielzeit oder dem Magazin k.west publiziert, das Wilink mitbegründet und 15 Jahre lang geleitet hat. Der Epilog ist der berührende Nachruf auf seinen Freund Jens, der vor 25 Jahren gestorben ist. Ich kannte diesen Autor bisher nicht. Das Buch hat mich überrascht und beeindruckt. Mehr zum Buch: aus-der-fernnaehe/

François Ozon

Der französische Regisseur im Blickpunkt von Filmkritik und Psychoanalyse. Zehn Texte beschäftigen sich mit seinem Werk. Gerhard Midding legt mit seinem sehr fundierten Essay die Basis: „Doppeltes Spiel“. Bei Dietrich Stern geht es um die Musik in FRANTZ und 8 FRAU-EN. Acht Beiträge konzentrieren sich auf jeweils einen Film: UNTER DEM SAND (2000, Texte von Marcus Stiglegger: „Vom Verschwinden und Wiederkehren“, und Isolde Böhme: „Vom Verschwinden, der Melancholie und der Trauer“), DIE ZEIT, DIE BLEIBT (2005, Text von Sabine Wollnik: „Sterben lernen“), RÜCKKEHR ANS MEER (2009, Dirk Blothmer: „Grundlegende Texturen seelischer Gestaltung“), SWIMMING POOL (2003, Jochen Hörisch: „Das nasse Element“), EINE NEUE FREUNDIN (2014, Petra Heymanns: „(Ver-)Wandlungen zwischen Eros und Thanatos“), FRANTZ (2016, Timo Storck: „Das Grauen und das Färben, oder: Zur Erotik der Lüge“), DER ANDERE LIEBHABER (2017, Rüdiger Suchsland: „Der doppelte Regisseur“). Auch die Dokumentation des 16. Mannheimer Filmseminars, das im Januar 2018 stattgefunden hat, ist eine spannende Lektüre. Band 15 der Reihe „Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie“. Mit Abbildungen in guter Qualität. Das 17. Mannheimer Filmseminar war Sofia Coppola gewidmet. Ich freue mich auf die Dokumentation. Coverfoto: Ozon beim Dreh von JUNG UND SCHÖN (2013). Mehr zum Buch: products_id/2839

Ula Stöckl

Vor gut einem Jahr fand im Berliner Kino Arsenal aus Anlass ihres 80. Geburtstages eine Retrospektive statt, kuratiert von Bärbel Freund. Das war offenbar die Initialzündung für diese Publikation. Die Herausgeberin Claudia Lenssen legt mit ihrem informativen Vorwort die Basis. Wunderbar: die konkreten Erinnerungen von Ula Stöckl, dokumentiert und mit Verweisen auf politische Ereignisse und wichtige internationale Filme ergänzt von Eva Hiller: an ihre Kindheit im Krieg, die Jugend in Ulm, die längeren Auslandsaufenthalte in Paris und London, die Arbeit als Sekretärin, die Ausbildung an der von Alexander Kluge und Edgar gegründeten Filmklasse der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die Verleihschwierigkeiten mit ihrem Abschlussfilm NEUN LEBEN HAT DIE KATZE (1968), die konfliktreiche Zusammenarbeit mit Fassbinder bei einer Theaterinszenierung im TAT in Frankfurt. Zehn Texte erschließen die Vielfalt des Werkes der eigenwilligen Filmemacherin, im Zentrum steht mehrfach NEUN LEBEN… Uta Ganschow verweist auf die Bedeutung von Antigone, Kirke und Medea für Ula Stöckl. Sophie Charlotte Rieger wirft einen queer-feministischen Blick auf die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND. Bei Bettina Henzler geht es um die Kinderfiguren in DAS GOLDENE DING und anderen Filmen. Ula beschreibt ihren verschollenen Film SONNTAGSMALEREI. Toby Ashraf verfolgt queere Spuren in ihrem Werk. Sabine Schöbel untersucht den Film DEN VÄTERN VERTRAUEN, GEGEN JEDE ERFAHRUNG. Bärbel Freund (die auch die abschließende Filmografie recherchiert hat) und Thomas Mauch erinnern an die Farben von NEUN LEBEN… und die Kameraarbeit in ERIKAS LEIDENSCHAFTEN. Nr. 53 der Film-Konzepte – eine besonders gelungene Ausgabe. Coverfoto: Kristine de Loup in NEUN LEBEN HAT DIE KATZE. Mehr zur Publikation: XHVVnumPq2w