WACKERSDORF (2018)

Der Ort in der Oberpfalz kam in die Schlagzeilen, als zu Beginn der 1980er Jahre die bayerische Staatsregierung plante, dort eine atomare Wiederaufbereitungs-anlage zu bauen. Die wirtschaft-liche Lage ist angespannt, es würden in der Region neue Arbeitsplätze entstehen, die ökonomischen Perspektiven sind positiv, aber es gibt Warnungen vor den Risiken des Projekts und eine erste Bürgerinitiative. Mehrere Dokumentarfilme haben das in den Jahren ab 1986 gezeigt. Im vergangenen Jahr kam der erste Spielfilm zu diesem Thema in die Kinos. Realisiert hat ihn Oliver Haffner nach einem Drehbuch von Gernot Krää. Die Qualitäten sind groß. Im Mittelpunkt steht der damalige Landrat Hans Schuierer (SPD), der einen Meinungswechsel vollzog und zu einem Gegner des Bauvorhabens wurde. Johannes Zeiler spielt ihn im Film sehr differenziert und macht aus der Rolle einen beeindruckenden Charakter. Seine Gegenspieler sind Sigi Zimmerscheid als Umweltminister und August Zirner als Innenminister. Im Hintergrund agiert Franz-Josef Strauß als Ministerpräsident. Bei Alamode ist inzwischen eine DVD des Polit-Dramas erschienen, die ich sehr empfehle. Zu den Extras gehören Interviews mit Regisseur und Hauptdarstellern, Deleted Scenes und Audiodeskription. Mehr zur DVD: wackersdorf.html

Der Schnitt als Denkfigur

Eine Dissertation, die an der Ludwig-Maximilians-Univer-sität in München entstanden ist. Sarah Hadda untersucht darin den „Schnitt als Denkfigur des Surrealismus“. Der zeitliche Rahmen sind die 1920er und 30er Jahre. Vier Künstler stehen im Mittelpunkt: Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador Dalí. Bei Max Ernst geht es um seine Montagetechniken zwischen Kunst, Natur und Populärkultur, um seine „poetische Objektivität“. In seinen frühen Collagen (1919-21) sind kinematografische Elemente zu entdecken. Dann dominieren Metamorphose und Vieldeutigkeit. Im Kapitel über Man Ray richtet die Autorin ihren Blick auf den inszenierten Zufall und die Poesie im Bild. Im Zentrum stehen die 12 Rayografien „Les Champs délicieux“ (1922). Aber auch Verfremdung und Identifikation im Spiegel-Bild kommen zur Sprache. Am interessantesten finde ich das Kapitel über Luis Buñuel: „Bewusster Automatismus und semantische Verschiebung durch Montage“. Die Analysen von UN CHIEN ANDALOU (1929) und L’ÂGE D’OR (1930) sind beeindruckend. Auch das vierte Kapitel über Salvador Dalís Entdeckung paranoisch-kritischer Aktivität vermittelt sehr interessante Erkenntnisse. Am Ende schlägt die Autorin noch ein Bogen in die Gegenwart und befasst sich mit der Ausstellung „Der Stachel des Skorpions“ (2014), die von dem Künstlerduo M+M konzep-tioniert wurde. Eine bemerkenswerte Publikation. Mit 56 kleinen Abbildungen im Anhang. Coverabbildung: Rayografie von Man Ray. Mehr zum Buch: der-schnitt-als-denkfigur-im-surrealismus/

Fernsehserie und Literatur

Welche Beziehungen gibt es zwischen Romanen und Fern-sehserien? In 16 Texten werden die Facetten dieser Medienbezie-hung reflektiert. Vincent Fröh-lich und Jens Ruchatz ziehen in zwei Teilen Vergleiche zwischen Roman und televisueller Narration im 21. Jahrhundert und zwischen Fernsehen und Zeitschrift im 19. Jahrhundert. Christian Hißnauer erinnert an zwei Fernsehserien der 1960er Jahre: SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN und AM GRÜNEN STRAND DER SPREE. Hans Richard Brittnacher sieht die Western-Serie DEADWOOD als Drama und Theater. Kay Kirchmann beschäftigt sich mit Rainer Werner Fassbinders BERLIN ALEXAN-DERPLATZ, Matthias Däumer mit Michael Hirsts VIKING. Bei Ralf Adelmann geht es um populärkulturelle Automatismen und Sherlock Holmes, bei Arno Meteling um Fantasyserien. Vincent Fröhlich untersucht Figur und Form von JUSTIFIED. Torsten Hahn fragt nach dem Umgang mit expliziten Referenzen in EMPIRE. Jens Schröder entdeckt Aspekte der Literatur in STAR TREK – THE NEXT GENERA-TION. Marco Lehmann findet lyrische Konfigurationen im seriellen Erzählen. Tobias Haupts befasst sich mit JMS, BABYLON 5 und der Space Opera. Uwe Wirth porträtiert den Bestsellerautor Richard Castle. Vera Cuntz-Leng reflektiert die Wechselbeziehung von Fanfiction und Fernsehserie. Lisa Gotto richtet den Blick auf die digitalen Schreib-operationen von MR. ROBOT. Das ist ein sehr komplexes Angebot für alle, die mit Fernsehserien eng vertraut sind. Mit Abbildungen in akzeptabler Qualität. Mehr zum Buch: .XPdU2On-BW8 

Website „Alte Filme“

In den vergangenen Jahren hat Werner Sudendorf vor allem Texte über westdeutsche Kinofilme der 50er Jahre auf der Seite „new filmkritik“ publiziert, zuletzt über SÜNDIGE GRENZE: suendige-grenze-1951/. Aber Werners Spektrum ist natürlich unendlich viel größer. So hat es eine Logik, dass er kürzlich eine eigene Seite ins Netz gestellt hat: „Alte Filme“. Sie ist über ein Register zu erschließen und offeriert eigene oder historische Texte zu Filmen (u.a. DER BLAUE ENGEL, DIE HERRIN DER WELT, ROSE BERND), Namen (Joe May, F. W. Murnau, Lupu Pick, Arthur Robison, Will Tremper), Marlene Dietrich, diversen Themen (zum Beispiel Schnelligkeit der Projektion) und Listen der erfolgreichsten Filme oder der beliebtesten Nachwuchsdarsteller 1952-1959. 51 externe Links führen zu seinen Texten über Filme der 50er Jahre. Für alle, die sich mit Filmgeschichte beschäftigen, ist diese Seite eine sehr große Bereicherung, ihr Wachstum wird von mir natürlich mit Spannung beobachtet. Zur Website: http://wernersudendorf.de

Jenseits von Golzow

Mit der Landzeitbeobachtung der Kinder von Golzow (1961-2007) haben Winfried und Barbara Junge Filmgeschichte geschrieben. Darüber wird leicht vergessen, dass sie auch andere dokumentarische Filme realisiert haben. 15 Titel sind jetzt auf zwei DVDs bei Absolut Medien erschienen, für die Mehrzahl war Winfried Junge in den 60er und 70er Jahren allein verantwortlich. Ich nenne einige Filme, die mir besonders gut gefallen haben: STUDEN-TINNEN (1965) mit Beobachtungen an der Technischen Hochschule in Ilmenau, wo zu wenige Frauen studieren, IN SYRIEN AUF MONTAGE (1970), Porträts von Monteuren aus Karl-Marx-Stadt, die in Syrien aushelfen, WENN JEDER TANZEN WÜRDE, WIE ER WOLLTE, NA! (1972), Impressionen aus einer Tanzschule, JUBILÄUM EINER STADT – 750 JAHRE ROSTOCK (1968), ein historischer Rückblick, AUF DER ODER (1968), über Eisbrecher aus der DDR und Polen, DIESE BRITEN, DIESE DEUTSCHEN (1987), über die Beziehungen der Länder, NICHT JEDER FINDET SEIN TROJA (1990), über die Zusammenarbeit zwischen der DDR und Syrien in einer Archäologengruppe. In der Regel sind dies klassische Beobachtungsfilme, die uns an eine der großen Stärken der DEFA-Dokumentarfilme erinnern. Alle Filme wurden inzwischen restauriert und digitalisiert. Insgesamt 442 Minuten mit umfangreichem Begleitmaterial. Mehr zur DVD: JENSEITS+VON+GOLZOW

BALLON (2018)

Ein Thriller, basierend auf einer wahren, spektakulären Geschichte. Am 16. September 1979 sind die Familien Strelzyk und Wetzel mit einem selbst-gebastelten Heißluftballon aus der DDR in die Bundesrepublik geflüchtet. Vor 37 Jahren gab es eine erste Verfilmung der Story: MIT DEM WIND NACH WESTEN von Delbert Mann, eine Disney-Produktion. Jetzt hat Michael „Bully“ Herbig den Stoff noch einmal verfilmt. Sein Blick auf die damaligen Geschehnisse ist genauer, die Beobachtungen der Verhältnisse in der DDR erscheinen realistischer, aber die Spannung ist keineswegs geringer. Ein erster Fluchtversuch misslingt, der Wettlauf mit der Zeit spitzt sich zu, im Hintergrund operiert die Stasi. Aber man weiß natürlich, dass es ein Happyend gibt. Herbigs Wechsel von der Komödie ins Drama ist beeindruckend gelungen. Dazu tragen auch die Darsteller/innen bei: Friedrich Mücke als Peter Strelzyk, Karoline Schuch als seine Frau Doris, David Kross als Günter Wetzel, Alicia von Rittberg als seine Frau Petra, Thomas Kretschmann als Stasi-Offizier. Auch Kameraführung und Schnitt erhöhen die Spannung im Film. Bei Studio Canal ist jetzt eine DVD erschienen, die unbedingt zu empfehlen ist, wenn man den Film im vergangenen Jahr nicht im Kino gesehen hat. Mehr zur DVD: dvd/ballon

Mediendiktatur Nationalsozialismus

Die 13 Aufsätze und Vorträge des Literaturwissenschaftlers Erhard Schütz (*1946) beschäftigen sich mit kultureller Medialisierung im Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt steht dabei die Literatur. Thematisch geht es u.a. um Heroismus, den Wald, die USA in Reisebüchern aus Nazideutschland, Reisen auf den „Straßen des Führers“, den Volkswagen als Erinnerungsort und sechsmal um das Fliegen. Besonders beeindruckend: ein 43-Seiten-Text über Luftwaffe und Bombenkrieg im nationalsozialistischen Spiel- und Dokumentarfilm („Flieger-Helden und Trümmer-Kultur“). Zu den von Schütz ausgewählten und analysierten Filmen gehören D III 88 (1939) von Herbert Maisch, FEUERTAUFE (1940) von Hans Bertram, QUAX, DER BRUCHPILOT (1941) von Kurt Hoffmann, STUKAS (1941) von Karl Ritter, DIE GROSSE LIEBE (1942) von Rolf Hansen, JUNGE ADLER (1944) von Alfred Weidenmann, DIE DEGENHARDTS (1944) von Werner Klingler, EIN SCHÖNER TAG (1944) von Philipp Lothar Mayring und DAS LEBEN GEHT WEITER (1945) von Wolfgang Liebeneiner (unvollendet). Natürlich spielen auch Wochenschauen eine Rolle. Handlungselemente, Bilder und Dialoge werden vom Autor präzise beschrieben und mit den jeweiligen Phasen des Krieges in Verbindung gebracht. Auch der Verweis auf den amerikanischen Film MRS. MINIVER (1942) von William Wyler ist aufschlussreich. Die 25 Abbildungen sind gut ausgewählt. Mehr zum Buch: Mediendiktatur_Nationalsozialismus/

„Der blutrote Teppich“

Der zweite Fall für den Privat-detektiv Hardy Engel. Wir schreiben das Jahr 1922. Am Morgen des 2. Februar wird der Regisseur William Desmond Taylor in seiner Wohnung in Hollywood erschossen aufge-funden – von Hardy Engel, der am Abend zuvor mit ihm telefoniert hatte und von ihm beauftragt wurde, die Schauspie-lerin Mabel Normand zu beobachten. Sie war der letzte Gast von Taylor. Normand hatte die Nacht zuhause verbracht. Engel benachrichtigt die Polizei und gerät sofort in den Verdacht, Taylor ermordet zu haben. Aber er hat ein Alibi vorzuweisen und beginnt  – parallel zur Bezirksstaatsanwaltschaft von Los Angeles – mit seinen Ermittlungen. Der Fall erweist sich als äußerst kompliziert. Erster Tatverdächtiger ist der Drogendealer Duke, der vor allem die Produzentenbranche beliefert und über ein kleines Buch verfügt, in dem seine Lieferungen aufgelistet sind. Aber Duke wird seinerseits ermordet. Polizei und Staatsanwaltschaft sind mit den Ermittlungen sehr zögerlich. Neben Hardy Engel wird die Regisseurin Polly Brandeis im Auftrag des Regieverbandes aktiv und verbindet sich bei den Nachforschungen mit Engel. Zwischen ihnen entsteht eine teils zärtliche, teils kämpferische Beziehung. Der Autor dringt mit seinem Roman tief in die Hollywoodszene des Jahres 1922 ein, Carl Laemmle und Charlie Chaplin spielen wichtige Rollen, mit Cecil B. DeMille unternimmt Engel seinen ersten Flug über die Stadt L.A. und das Umland. Am Ende wird der Fall von Harry und Polly zwar aufgeklärt, aber dies darf die Öffentlichkeit nicht erfahren. Der Umfang von 640 Seiten ist das Resultat einer gewissen Detailverliebtheit von Christof Weigold, aber insgesamt ist das Buch spannender als Band 1, bei dem es um den Komiker Roscoe „Fatty“ Arbuckle ging. Die Serie erscheint im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Band 3 folgt hoffentlich im kommenden Jahr. Mehr zum Buch: 978-3-462-05141-4/ Diesen Text widme ich meinem Freund Norbert Grob, der heute 70 Jahre alt wird.

Jia Zhangke

Eine Dissertation, die an der Universität Leipzig entstanden ist. Peiqi Han untersucht darin „Soziale Ausgrenzungen in den Dokufiktionen des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke“. Sein jüngster Film, ASCHE IST REINES WEISS, lief in den letzten Monaten in den Kinos und hat mich sehr beeindruckt. Er kommt in dem Buch natürlich noch nicht vor. Die Analysen der Autorin konzentrieren sich vor allem auf vier Filme: PICK POCKET (1997), THE WORLD (2004), STILL LIFE (2006) und 24 CITY (2008). Soziale Ausgren-zungen sind Armut, Ohnmacht, Schlechte Arbeit, Arbeitslosigkeit, Verletzung von Rechten und Interessenbeeinträchtigung, Verlust von sozialen Beziehungen, seelische Belastungen, natürlich bedingte Schwäche, Abweichungen von Normen und Werten. Sie werden für jeden Film in Codebögen nach Anzahl der Sequenzen aufgelistet, in denen sie eine Rolle spielen. Die Filmbeschreibungen wirken sehr präzise, es gibt zusätzliche Hintergrundinformationen, Verweise auf die Inkongruenz zwischen der narrativen und der ästhetischen Ebene und jeweils ein Zwischenfazit. Vor den Analysen sind Kapitel über den Filmemacher Jia Zhangke (*1970) und das Dispositiv seiner Filme, soziale Ausgrenzung im soziologischen Diskurs und aus phänomenologischer Sicht sowie eine Definition von Dokufiktion platziert. Das Buch bietet eine gute Möglichkeit, sich mit dem Werk des Regisseurs Jia Zhangke vertraut zu machen. Die farbigen Abbildungen haben eine akzeptable Qualität. Mehr zum Buch: =29725

Die Kunst und das Nichts

Das Feuilleton ist nicht nur ein Zeitungsressort (Kulturteil), sondern auch eine klassische Textform, in der assoziativ und persönlich Gedanken über ein spezielles Thema formuliert werden. Im besten Fall ist es ein Stück Literatur. Claudius Seidl, Leiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hat jetzt einen Sammelband mit 35 Texten publiziert, die er in den vergangenen 18 Jahren für seine Zeitung geschrieben hat: „Nahezu klassisches Feuilleton“ heißt der Untertitel. Es geht u.a. um das Rauchen, das Judentum, Ressentiments, Helden, Geld, Pornographie, Russland, Klimawandel und Hexenwahn, Drogen, Rainald Goetz, Autofahren, Helmut Lang, Bert Brecht, Multikulturalismus. Zwölfmal ist der Film das Thema, speziell: das Münchner Filmmuseum („Die fröhlichste aller Wissen-schaften“, 2013), der Pornofilm („Nichts als die nackte Wahrheit“, 2015), James Bond („Der Tod steht im gut“, 2012), Tarantinos Film INGLOURIOUS BASTERDS („Lasst uns Nazis skalpieren!“, 2009), John Wayne („Hässlich, stark und würdevoll“, 2007), Tarantinos Film KILL BILL („Die Braut trug Schwert“, 2004), den Action-Film („Als der Regen kam“, 2001), BATMAN BEGINS von Christopher Nolan („Der amerikanische Psycho“, 2005), SPIDER-MAN 2 („Der Superheld im Waschsalon“, 2004), Helmut Dietl („Bitte bleiben Sie!“, 2014), Kevin Spacey („Ein Mann wird gelöscht“, 2017), Digitalisierung („Rettet den Film!“, 2014). Ja, all diese Texte sind „nahezu klassisches Feuilleton“, sie haben Stil, sind Resultat einer Haltung, fordern mich als Leser heraus, lassen mich gelegentlich lachen oder auch mal den Kopf schütteln. Eine beeindruckende Anthologie. Mehr zum Buch: die-kunst-und-das-nichts/