Texte & Reden
18. Mai 2017

Peter Nestler zum 80. Geburtstag

Eine Laudatio

Meine Damen und Herren,

wie schade, dass Peter Nestler heute nicht hier sein kann, wir übermitteln ihm unsere besten Genesungswünsche nach Schweden.

Wenn ich an Peter denke, dann höre ich zuerst seine leise, ausdrucksstarke Stimme, sehe ihn, wie er sich wortkarg und bescheiden im Hintergrund hält, und erinnere mich an seine frühen Filme aus den 1960er Jahren: Am Siel, Aufsätze, Mühlheim (Ruhr), Ödenwaldstetten, Ein Arbeiterclub in Sheffield, Rheinstrom, Von Griechenland. Das waren kurze, ganz besondere Dokumentarfilme, die sich für Menschen, für ihren Alltag, ihr Leben interessierten, und den Zuschauerinnen und Zuschauern den Blick dafür öffneten.

Wie kommt ein junger Mann auf die Idee zu solchen Filmen?

Peter Nestler, geboren in Freiburg, war der Sohn eines Unternehmers, der wenig Glück mit seinen Unternehmen hatte. Peter hat in der Firma seines Vaters gearbeitet, ist zwischendurch zwei Jahre zur See gefahren, hat an der Kunstakademie in München Malerei und Siebdruck studiert und als Schauspieler in mehreren Filmen mitgewirkt. Er wohnte damals als Untermieter bei einer Gesangslehrerin mit guten Kontakten zum Film.

Sie verschaffte ihm 1959 eine Fast-Hauptrolle in dem Schlagerfilm Paradies der Matrosen von Harald Reinl. Seine Partnerin war Margit Saad. Peter sah damals aus wie der junge Tony Curtis. Er hätte eine Schauspieler-Karriere machen können. Zwei Jahre später gab es noch einmal eine Hauptrolle: In dem Film Eine hübscher als die andere von Axel von Ambesser mit Heidi Brühl.

Peter war damals schockiert von der mechanischen Produktionsweise im westdeutschen Film. So wollte er nicht langfristig arbeiten. Wenn man seinen Namen heute bei Wikipedia aufruft, steht dort zwar noch immer: „Schauspieler“. Aber Peter Nestler wechselte im Alter von 24 Jahren hinter die Kamera. Zusammen mit dem Fotografen Kurt Ulrich drehte er den 13-Minuten-Film Am Siel, damals realisiert aus unverbrauchtem 35mm-Restmaterial, die Textklammer stammte von Robert Wolfgang Schnell.

Zwei Jahre später entstand für den Süddeutschen Rundfunk Ödenwaldstetten, ein 36-Minuten-Film über die Veränderungen in einem schwäbischen Dorf, ein Jahr darauf mein persönlicher Lieblingsfilm von Peter, Ein Arbeiterclub in Sheffield, Impressionen aus einer Stadt in Mittelengland, aus einer Stahlfabrik, einer Schule, und vor allem: aus einem Club, in dem geredet, getrunken, getanzt, gesungen und Bingo gespielt wird. Die Musik, die Bilder, die Menschen gehen eine eigene Verbindung ein. 41 Minuten, schwarzweiß. Als der Film im Fernsehen gezeigt wurde, hieß er plötzlich Menschen in Sheffield, die Arbeiter waren aus dem Titel verschwunden. Peter galt als politisch links, er bekam plötzlich keine Fernsehaufträge mehr, Von Griechenland und Rheinstrom wurden nicht mehr gesendet. 1966 ist Peter nach Schweden emigriert.

Jean-Marie Straub hat einmal gesagt: „Ich glaube immer mehr, dass Nestler der wichtigste Filmemacher in Deutschland seit dem Krieg gewesen ist.“ Ab 1967 drehte Peter Nestler – meist in Zusammenarbeit mit seiner Frau Zsóka – Filme für das Zweite Programm des Schwedischen Fernsehens, vor allem für die Kinder- und Jugendredaktion, in der er ab 1970 festangestellt war. Es entstanden zahlreiche Filme über Arbeit, die historische Produktionsprozesse sichtbar machen: Wie baut man eine Orgel? Wie macht man Glas? Über das Aufkommen des Buchdrucks, Über die Geschichte des Papiers, Stoff, Eisenherstellung.

Ein zweites Thema waren Länder, die sich in Krisensituationen befanden: Bilder von Vietnam (1972), Spanien! (1973), Chilefilm (1974) und Pinets Puppen (1976), Ausländer/Iraner (1977/78), Es ist Krieg in Mittelamerika (1982).

Gelegentlich wurden die Filme von deutschen Fernsehanstalten koproduziert. Der Spanien!-Film wurde in Zusammenarbeit mit dem Westdeutschen Rundfunk realisiert. Der historische Film Die Judengasse (1988) entstand für den Südwestfunk und wurde Bestandteil der Ausstellung des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main.

Beispielhaft sind die Filme von Peter Nestler in ihrem Umgang mit historischem Material, Fotos und aktuell gedrehtem Material, in der Montage von Bildern und Texten. Immer ist die persönliche Autorenhaltung zu spüren. Meist geht es um die Vermittlung von politischen, sozialen und ökonomischen Prozessen. In der Regel verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart.

Man darf die Filme radikal in ihrer Form nennen, und das bedeutet heute im medialen Zusammenhang: Sie sind eigenständige Kunstwerke, nicht angepasst an die Formate des öffentlich-rechtlichen oder gar des privaten Fernsehens.

Wenn Peter Nestler Interviews führt, dann wahrt er Distanz, ist respektvoll, findet immer den richtigen Ton für das Gespräch. Es gibt bei ihm keinen emotionalen Druck, sondern die Möglichkeit, zu überlegen und nachzudenken.

Auch wenn man sich wünscht, manche Filme von Peter Nestler im Kino zu sehen, sie sind weitgehend fürs Fernsehen produziert. Und dank der technischen Entwicklung hin zur DVD, ist ihre Verfügbarkeit heute groß. Bei Absolut Medien ist in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek und dem Haus des Dokumentarfilms eine Box erschienen, in der man so seltene Filme findet wie Die Donau rauf (1970), Die Nordkalotte (1991) und Pachamama – Unsere Erde (1995). Es sind Filme gegen das Vergessen.

In seiner Bedeutung als Dokumentarist ist Peter Nestler vergleichbar mit Klaus Wildenhahn, Jürgen Böttcher, Hans-Dieter Grabe oder Volker Koepp. Aber er ist seinen eigenen Weg gegangen. Dazu hatte er die Kraft, den Mut und die Haltung. Das schätzen wir an ihm, dafür feiern wir ihn heute und bedauern, dass er nicht bei uns sein kann.

18. Mai 2017, Berlin, Dokumentationszentrum Sinti und Roma