Texte & Reden
12. Februar 2017

Fassbinder und die erste Berliner Schule

Anmerkungen zu „Acht Stunden sind kein Tag“ und den Filmen von Christian Ziewer und Lüdcke/Kratisch

1.

Die Arbeitswelt hat als Schauplatz in der deutschen Filmgeschichte keine kontinuierliche Tradition. Eine erste Phase proletarischer Filme begann Mitte der 1920er Jahre mit den Sozialdramen von Gerhard Lamprecht (Die Verrufenen, Die Unehelichen, Menschen untereinander), es folgten 1929 die Filme Brüder von Werner Hochbaum, Jenseits der Straße von Leo Mittler, Hunger in Waldenburg und Mutter Krausens Fahrt ins Glück von Piel Jutzi und 1930 Lohnbuchhalter Kremke von Marie Harder. Am Ende steht 1932 Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? von Slatan Dudow nach einem Drehbuch von Bertolt Brecht und Ernst Ottwald. Immer geht es um Arbeitslosigkeit, um soziale Benachteiligung, um Armut, Hunger und Wohnungsnot, denen schwer zu entkommen ist. Appelliert wird an die Solidarität der Betroffenen, am besten in einer Arbeiterbewegung. Für die Produktion einiger dieser Filme war die Firma „Prometheus Film“ verant­wortlich, die 1926 gegründet worden war, aber während der Dreharbeiten zu Kuhle Wampe in Konkurs ging. Mehrfach hat der Zeichner Heinrich Zille die Vorlagen geliefert, vor allem Mutter Krausens Fahrt ins Glück galt als „echter Zille-Film“, ganz nahe an der Realität des „Roten Wedding“ in Berlin. Rainer Werner Fassbinder hat ihm 1975 mit Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel eine Hommage gewidmet.

2.

Auch die Filme, von denen hier die Rede sein soll – Liebe Mutter, mir geht es gut von Christian Ziewer und Klaus Wiese, Die Wollands von Marianne Lüdcke und Ingo Kratisch und die Fernsehserie Acht Stunden sind kein Tag von Rainer Werner Fassbinder – , entstanden in einer speziellen Zeit: zu Beginn der 1970er Jahre in der Bundesrepublik, als eine sozialliberale Koalition an der Regierung war, die Studentenbewegung sich differenzierte und Signale einer Wirtschafts­krise zu erkennen waren. Ein Schlüsselfilm ist in diesem Zusammenhang Rote Fahnen sieht man besser (1971) von Theo Gallehr und Rolf Schübel. Er schildert die Betriebsstilllegung der Phrix-Werke in Krefeld aus der Sicht von vier entlassenen Kollegen. Zwar kommt auch die Konzernleitung zu Wort, aber die Gespräche mit den Betroffenen, ihre Besuche auf dem Arbeitsamt, ihre Existenz­sorgen, ihre spürbare Politisierung stehen im Mittelpunkt des Films. Er wurde für den WDR gedreht (Redaktion: Martin Wiebel), enthielt in der Originalfassung ein Protestlied des Sängers Dieter Süverkrüp, das für die Fernsehausstrahlung entfernt wurde, und galt schon durch seinen Titel als programmatisch für den „neuen“ Dokumentarfilm in der Bundesrepublik, damals gedreht im 16mm-Format, schwarz/weiß; das Rot der Farben hatte vor allem symbolischen Wert.

3.

Es ist gewiss kein Zufall, dass damals der WDR in Köln für den „Arbeiterfilm“ zuständig war. Der Leiter der Abteilung Fernsehspiel, Günter Rohrbach, hatte in den späten 1960er Jahren eine Veränderung der Formen und Themen in seinem Bereich gefordert („Bildungstheater oder Zeittheater“ hieß sein programmatischer Text) und mit seinen verantwortlichen Redakteuren – das waren Wolf-Dietrich Brücker, Volker Canaris, Peter Märthesheimer, Joachim von Mengershausen, Martin Wiebel und Gunther Witte – die Veränderungen in Angriff genommen. Rohrbach war neugierig auf die Produktionen des jungen (west)deutschen Films. Es gibt eine interessante englische Publikation mit dem Titel „WDR and the Arbeiterfilm: Fassbinder, Ziewer and others“ von Richard Collins und Vincent Porter (174 S., BFI 1981) mit vielen Informationen zu unserem Thema.

4.

Die fünfteilige Familienserie Acht Stunden sind kein Tag von Rainer Werner Fassbinder wurde von April bis August 1972 gedreht und ab Oktober 1972 in mehrwöchigem Abstand am Sonntagabend um 20.15 Uhr im Ersten Programm gesendet. Der Erfolg beim Publikum war immens, die Kritik reagierte überwie­gend distanziert. Es waren zunächst drei weitere Folgen geplant, für die auch die Drehbücher vorlagen, sie wurden aber „aus dramaturgischen Gründen“ (Günter Rohrbach) nicht realisiert. Es handelte sich um eine Eigenproduktion des WDR, verantwortlicher Redakteur war Peter Märthesheimer, der später auch als Autor für Fassbinder gearbeitet hat.

Schauplatz der Serie ist Köln. Die Hauptfigur heißt Jochen Krüger (gespielt von Gottfried John). Er ist Werkzeugmacher in einer großen Fabrik. Seine immer positiv gestimmte Großmutter (gespielt von Luise Ullrich) feiert zu Beginn ihren 60. Geburtstag. Es gibt Streitigkeiten im Familienkreis, und der Sekt geht zur Neige. An einem Getränke-automaten lernt Jochen Marion (gespielt von Hanna Schygulla) kennen, die er spontan zur Geburtstagfeier mitnimmt und in der vierten Folge heiratet. Sie arbeitet in der Anzeigen-Annahme des „Kölner Stadt-Anzeigers“ und ist eine patente, moderne junge Frau, in die man sich sofort verlieben kann.

15 Personen, die mit Jochen und Marion eng verbunden sind, agieren in wichtigen Rollen: Käthe (Anita Bucher) ist Jochens Mutter, Wolf (Wolfried Lier) Jochens trinkfreudiger Vater, Klara (Christine Oesterlein) Jochens altjüngferliche und meist negativ gestimmte Tante, Monika (Renate Roland) Jochens sympa­thische Schwester, Harald (Kurt Raab) Monikas autoritär denkender Mann, von dem sie sich schließlich scheiden lässt, Sylvia (Andrea Schober) Monikas und Haralds Tochter, die unter ihrem Vater leidet; den verwitweten Gregor (Werner Finck) lernt Oma in der ersten Folge kennen, er wird ihr Lebensgefährte; Irmgard Erlkönig (Irm Hermann) ist Marions eher kleinbürgerliche Arbeitskollegin, Manni (Thorsten Massinger) Marions kleiner Bruder, Manfred (Wolfgang Zerlett) Jochens bester Freund, Franz (Wolfgang Schenck) Jochens Arbeitskollege und später der Meister, Giuseppe (Grigorios Karipidis), Peter (Karl Scheydt), Rolf (Rudolf Waldemar Brem) und Rüdiger (Herb Andress) sind Jochens Arbeitskollegen, der sympathische Ernst (Peter Gauhe) wird kurzfristig als Meister eingestellt. Dann gibt es noch den Meister Kretzschmer (Victor Curland), der in der ersten Folge stirbt, den Werkshallenleiter Gross (Rainer Hauer), der sich ambivalent verhält, sowie fünf Hausfrauen (Margit Carstensen, Christiane Jannessen, Doris Mattes, Gusti Kreissl und Lilo Pempeit) und drei Vermieter in Teil II (Katrin Schake, Rudolf Lenz, Jörg von Liebensfeld).

Als Gäste haben Ulli Lommel (Peter), Ursula Strätz (Peters Frau), Ruth Drexel (Frau von Franz), Walter Sedlmayer (Witwer), Helga Feddersen (Bibliothekarin), Eva Mattes (Hochzeitsgast), Klaus Löwitsch (Dr. Bertram), Hannes Gromball (Betrüger), Brigitte Mira (Marions Mutter), Peer Raben (Kneipenbesucher), Heinz Meier, Karl-Heinz Vosgerau, Peter Chatel, Valeska Gert, Marquard Bohm, El Hedi Ben Salem und Peter Märthesheimer kleine Auftritte. Das personale Spektrum ist beeindruckend. Die fünf Teile tragen die Einzeltitel „Jochen und Marion“, „Oma und Gregor“, „Franz und Ernst“, „Harald und Monika“, „Irmgard und Rolf“.

Privatleben und Berufsleben der handelnden Personen werden in der Serie nicht getrennt. Sie sind, im Gegenteil, eng miteinander verwoben. Wir beobachten Familienfeiern aus wechselnden Anlässen (Geburtstag, Hochzeit), Konflikte in den Beziehungen und an den Arbeitsplätzen. Es geht um Leistungszulagen, Arbeitsplatzverlegungen, Mitbestimmung, Firmeninteressen, Vorurteile gegen Gastarbeiter, den Wohnungsmarkt und die zu hohen Mieten, fehlende Kinder­gärten, Doppelbelastung der Frauen, betrügerische Geschäfte. Die 60jährige Oma spielt immer wieder eine Schlüsselrolle, wenn die Klärung von Konflikten und die Wendung zum Positiven zu bewerkstelligen sind. Mit Luise Ullrich wurde diese Rolle ideal besetzt, weil man ihr die Ideenfindung und die Spontaneität ohne Einschränkung glaubt.

Fassbinder hat für die Serie intensiv recherchiert, Fabriken besucht, mit Gewerk­schaftern geredet, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, für die Situation der Werktätigen Verbesserungen zu erreichen, die keine Utopie sein sollten, sondern durch Ideen, Mut und Solidarität zu realisieren. Im Drehbuch wird bewusst mit Klischees bei Personen und Situationen gearbeitet, um den Zuschauern eine ihnen scheinbar vertraute Welt zu zeigen, die sich aber immer wieder in eine andere Richtung entwickelt. Hinter der Kamera stand Dietrich Lohmann, der bereits zehn Filme mit Fassbinder gedreht hatte und über eine große Professio­nalität verfügte.

Das große Kapital der Serie waren die Schauspielerinnen und Schauspieler: über fünfzig in tragenden oder auch kleinen Rollen, die den Zuschauern mehr oder weniger bekannt waren. Viele gehörten zur Clique der Fassbinder-Schauspieler, die man durchaus als Ensemble bezeichnen kann. Gottfried John und Hanna Schygulla waren natürlich die Hauptdarsteller. Aber Fassbinder hatte die Möglichkeit, auch älteren Stars zu einem Comeback zu verhelfen: der wunder­baren Luise Ullrich und dem großen Kabarettisten Werner Finck, der beein­druckenden Brigitte Mira und der legendären Tänzerin Valeska Gert, dem populären Wolfried Lier und der „Ulknudel“ Helga Feddersen. Und natürlich spielte auch seine Mutter Liselotte Eder eine kleine Rolle.

Die Fernsehkritik erkannte damals nicht die großen Qualitäten der Serie, sondern bemängelte den „stilistischen Mischmasch“ und die „hanebüchenen Klischees“ (Wolf Donner, Die Zeit), kritisierte „Naivität und Realitätsferne“ (Heiko R. Blum, Frankfurter Rundschau), sprach von „Illusionsschund“ (Karl Korn, FAZ) und resümierte: „… das ist schon pure Denunziation, verlogener und ärgerlicher als fast alles, was uns die Fernsehanstalten aus dieser Sparte bisher zugemutet haben.“ (Elisabeth Bauschmid, Süddeutsche Zeitung). Einige wenige hielten dagegen, so zum Beispiel Michael Buselmeier in einer Replik auf Günter Wallraff: „Wer am Bewusstsein der vielen etwas ändern will, ist gezwungen, deren zentrale Unterhaltungsfixierung ernstzunehmen, indem er die latent enorm wirksamen Trivialgenres mit ihren Klischees und Schablonen aufgreift, umpolt und gegenläufig aktiviert. Der puristische Hinweis, auf die größere Relevanz kritischer Dokumentationen, die die aktuelle Misere zugleich mit deren Ursache schildern, hat sich inzwischen leider als Ausflucht erwiesen.“ (DVZ, 1972, Nr. 52).

In seiner kommentierten Rainer-Werner-Fassbinder-Filmografie schrieb Wilhelm Roth über Acht Stunden sind kein Tag die noch immer geltende Bewertung: „Fassbinders Serie, in der die Menschen, entgegen den meisten politischen Dokumentarfilmen, nicht als Opfer, sondern als mögliche Herren ihrer eigenen Geschichte erscheinen, ist für mich der einzige neue deutsche Film, der Aufklärung nicht als Demonstration eines aufgeklärten Autors vor Gleich­gesinnten missversteht, sondern sie als eine pädagogische Arbeit am Bewusst­sein der Unaufgeklärten wirklich in Angriff nimmt.“ (Peter W. Jansen, Wolfram Schütte, Hg.: Rainer Werner Fassbinder. München 1974/ 5. Auflage 1985, S. 162).

5.

Der Film Liebe Mutter, mir geht es gut erzählt die Geschichte des angelernten Maschinenschlossers Alfred Schefczyk, der in der Rezession der Jahre 1965/66 seinen Arbeitsplatz in einer württembergischen Maschinenfabrik verloren hat und vom Arbeitsamt nach Westberlin vermittelt wird. Hier macht er den Job eines Hilfsarbeiters, ist in einem Wohnheim untergekommen, hat keine Lebensgefährtin und viel Zeit zum Nachdenken. Als die Mieten im Wohnheim erhöht werden und einige Bewohner zum Protest aufrufen, scheitert die geplante Aktion an der Resignation der Mehrheit. Als im Betrieb die Verlegung des Produktionszweiges in die Bundesrepublik beschlossen wird, können die Betriebsräte dies nicht verhindern. Gegen die Kürzung der Akkordzeiten protestiert eine Abteilung mit einem spontanen Streik. Alfred berichtet dies in anderen Abteilungen, die sich dem Streik anschließen. Schlichtungsvorschläge des Betriebsratsvorsitzenden lehnen sie ab. Mit eigenen Delegierten versuchen sie, mit der Betriebsleitung zu verhandeln. Sie lassen sich auf Einzelgespräche ein und akzeptieren Kompro­misse. Als dann einer der Delegierten fristlos entlassen wird, versucht Alfred, mit einer Unterschriftensammlung die Belegschaft zu mobilisieren. Die Solidarität bleibt gering. Am Ende schreibt Alfred einen Brief: „Liebe Mutter! Mir geht es gut. Wahrscheinlich werde ich bald aus dem Wohnheim ausziehen. Viele Grüße, Euer Alfred.“

Der Film konzentriert sich ganz auf die Geschehnisse im Betrieb und im Wohn­heim. Mit großer Genauigkeit auch in den Details werden die Konflikte darge­stellt, bei deren Lösung Alfred zunehmend eine aktive Rolle übernimmt. Private Bereiche sind weitgehend ausgespart. In seiner Dramaturgie verzichtet der Film auf Linearität. Es gibt abrupte Unterbrechungen, Zwischentitel, Kommentare aus dem Off und frontal aufgenommene Statements. Der Betriebsrat hat natürlich die undankbarste Rolle. Frauen sind nur am Rande zu sehen, meist schweigsam an ihren Arbeitsplätzen.

Der Hauptdarsteller Claus Eberth: „Verblüffend war es für mich mitzuerleben, wie traumwandlerisch sicher die Arbeiter ihre Figuren spielten. Oder spielten sie gar nicht? Vielleicht lebten sie diese Menschen, die sie zu spielen hatten?“. Eberth, damals Ende dreißig, war ein erfahrener Schauspieler und gab dem Alfred Schefczyk, genannt Schef, eine authentische Glaubwürdigkeit. Auch die anderen Darsteller, Nikolaus Dutsch als Arbeiter Bruno Behringer, Heinz Hermann als Meister der Galvanik, Ernst Lenart als Direktor, Kurt Michler als Betriebsrats­vorsitzender, Horst Pinnow als Galvaniseur, waren überzeugend. Alle anderen Rollen wurden mit Arbeitern, also mit Laien besetzt.

Regisseur des Films war Christian Ziewer (*1941), Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, der das Drehbuch zusammen mit Klaus Wiese geschrieben hatte. Ausführliche Recherchen in Berliner Großbetrieben waren vorausgegangen. Produziert wurde der Film von der Firma „Basis-Film“, die der Regisseur mitgegründet hatte. Der WDR beteiligte sich mit 150.000 DM. Der zuständige Redakteur war Joachim von Mengershausen, der auch die weiteren Filme von Christian Ziewer betreute. Uraufgeführt wurde Liebe Mutter, mir geht es gut im Juni 1972 im Rahmen des „internationalen forums des jungen films“ der Berlinale. Die Erstausstrahlung fand am 18. September 1972 im WDR III statt, in der ARD wurde er am 1. Mai 1973 um 20.15 Uhr gesendet.

Die Rezensionen des Films erschienen nicht unter der Rubrik Fernsehen, son­dern Film/Kino und waren weitgehend positiv. Wolfram Schütte schrieb: „Mit Liebe Mutter, mir geht es gut hat unser politischer Film endlich jene kommuni­kative Reife erlangt, von der er bisher nur wirr geträumt hatte.“ (Frankfurter Rund­schau). „Ziewer hat sehr sorgfältig und genau gearbeitet. So besitzt der Film neben analytischer Schärfe auch tatsächlich Authentizität und Spontaneität.“ (Hans C. Blumenberg, Kölner Stadt-Anzeiger). „Christian Ziewer und seinem Kollektiv, in dem vor allem die Mitarbeit der Laiendarsteller entscheidend war, ist es exemplarisch gelungen, eine nachvollziehbare, aus authentische Konflikten konstruierte Geschichte zu erzählen und dabei über den individuellen Fall hinaus die auftretenden Widersprüche als systembedingt deutlich zu machen.“ (Wolf­gang Ruf, Süddeutsche Zeitung). Wilfried Wiegand war unsicher: „Die formalen Qualitäten von Ziewers Film sind unbestritten. Ob allerdings diese Arbeit über die Gattung des Zielgruppenfilms hinausweist, ist die Frage.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung).

In zwei weiteren Filmen, Schneeglöckchen blühen im September (1973) und Der aufrechte Gang (1975), beide mit Claus Eberth, hat Christian Ziewer ähnliche Themen behandelt und Formen angewandt wie in seinem Debüt. Dann drehte er einen Film über chilenische Flüchtlinge in Deutschland, Aus der Ferne sehe ich dieses Land (1978) nach einem Drehbuch von Antonio Skarmeta. Anschließend ging sein Blick weit zurück in die deutsche Geschichte, zum Bauernaufstand 1524 in Franken. Der Tod des weißen Pferdes (1985) war sein letzter Spielfilm.

6.

Ein Defizit des Films Liebe Mutter, mir geht es gut, sein Verzicht auf die Privat­sphäre der Protagonisten, hat zwei andere Absolventen der dffb, Marianne Lüdcke (sie spielte eine Komparsenrolle bei Ziewer) und Ingo Kratisch (er war Assistent des Kameramanns Jörg Baldenius), zu ihrem Film Die Wollands animiert. Auch hier geht es um Konflikte in der Arbeitswelt. Die Hauptfigur ist der Schweißer Horst Wolland, dem eine Beförderung zum Vorarbeiter in Aussicht gestellt wird. Er hat eine arbeitende Frau und ein Kind, um das sich die Groß­mutter kümmert. Als seine Kollegen wegen Kürzung der Akkordzeiten einen Sitz­streik organisieren, nimmt er daran nicht teil. Als die Betriebleitung versucht, einige protestierende Kollegen zu isolieren, und der Abteilungsleiter von ihm die Namen der Anführer wissen möchte, weigert er sich, diese zu verraten. Daraufhin wird er nicht zum Vorarbeiter befördert. Wolland engagiert sich nun stärker mit seinen Kollegen im Betrieb.

Die Geschichte wird aus der Perspektive von Horst Wolland erzählt. Mit ihm sollen sich die Zuschauer identifizieren. Was er in der Fabrik erlebt, hat Auswir­kungen zu Hause, zum Beispiel die Hoffnung auf eine Beförderung und dann die Absage. Wir erleben Wolland mit seiner Frau, seiner Tochter, im Schrebergarten seiner Eltern, beim Kegeln mit Freunden und natürlich im Betrieb. Nicolas Brieger trägt als Horst Wolland die Hauptlast und überzeugt durch sein differenziertes Spiel. Lüdcke/Kratisch konnten zahlreiche Mitglieder des Ensembles der damali­gen „Schaubühne am Halleschen Ufer“ für die Mitwirkung gewinnen: Elfriede Irrall spielt die Ehefrau Karin Wolland, Katharina Tüschen und Rudi Unger sind Mutter und Vater Wolland, Peter Fitz, Rüdiger Kirschstein, und Otto Mächtlinger agieren als Kollegen von Horst, Klaus Sonnenschein hat die undankbare Rolle des Betriebsratsvorsitzenden. Die enge Vertrautheit der Schauspielerinnen und Schauspieler wirkt sich auch auf ihr Zusammenspiel aus. Für kleinere Rollen wurden Laien engagiert. Hinter der Kamera standen Ingo Kratisch und der dffb-Student Martin Streit.

Die Wollands war der Abschlussfilm von Marianne Lüdcke und Ingo Kratisch an der dffb. Sie hatten dort zuvor gemeinsam den 30-Minuten-Film Akkord realisiert. Der Film wurde 1972 im Wettbewerbsprogramm der Internationalen Filmwoche Mannheim gezeigt (sie erhielten dafür einen „Mannheimer Dukaten“) und im September 1973 vom ZDF in der Reihe „Der besondere Film“ ausgestrahlt.

In den Berichten von der Mannheimer Filmwoche wurden Die Wollands überwie­gend sehr gelobt. Ich zitiere aus dem Text von Wilhelm Roth: „Der mit Originalton gedrehte Film ist spontan und leicht inszeniert: er hat nicht die Verklemmung so vieler politischer Filme, die aus Angst, nur ja die Theorie korrekt wiederzugeben, eng und unfrei wirken. In den Wollands werden alle Denkergebnisse aus Geschichten gewonnen und gleich wieder in Geschichten übergeführt. Dass der Film, den ja immerhin Studenten, Anfänger gemacht haben, so professionell, aber nie steril geworden ist, liegt nicht zuletzt an den Darstellern, die vor allem von der Schaubühne am Halleschen Ufer kommen, Schauspielern, denen die Freude an ihren Rollen anzumerken ist, und die Arbeit, die sie (bisher unbezahlt) in den Film gesteckt haben.“ (Süddeutsche Zeitung, 18.10.1972).

Marianne Lüdcke (*1943) und Ingo Kratisch (*1945) haben danach noch drei Filme gemeinsam realisiert: die „Arbeiterfilme“ Lohn und Liebe (1973) und Familienglück (1975) und den historischen Film Die Tannerhütte (1976). Sie wurden vom WDR produziert, der Redakteur war Wolf-Dietrich Brücker. Dann trennten sich ihre Wege. Ingo Kratisch arbeitete überwiegend als Kameramann, Marianne Lüdcke hatte mit dem dreiteiligen Fernsehfilm Die große Flatter einen großen Erfolg und drehte in den 80er Jahren zahlreiche Fernsehfilme, für die sie auch die Drehbücher verfasste. Sie starb im Mai 1999 in Frankreich.

Mitte der 70er Jahre endet die produktive Phase der ersten „Berliner Schule“, ihre Protagonisten wenden sich eher historischen Themen zu. Eine zweite „Berliner Schule“ entwickelt sich Mitte der 90er Jahre, sie definiert sich durch stilistische Gemeinsamkeiten, zu ihr zählt man vor allem Thomas Arslan, Christian Petzold und Angela Schanelec. Zwischen der ersten und der zweiten Berliner Schule gibt es als Verbindung nur ihre Ausbildungsstätte: die Deutsche Film- und Fernseh­akademie Berlin.

1975 dreht Rainer Werner Fassbinder in Frankfurt am Main den Film Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel, der sich mit seinem Titel auf den proletarischen Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) von Piel Jutzi bezieht und auch in der Figurenkonstellation Parallelen aufweist. Er erzählt die Geschichte von Emma Küsters (gespielt von Brigitte Mira), deren Mann zu Beginn nach Massen­entlassungen in einer Reifenfabrik seinen Personalchef erschießt und dann sich selbst umbringt. Die erwachsenen Kinder wenden sich von ihrer Mutter ab, sie findet in ihrer Not Schutz bei einem Ehepaar, das der DKP angehört. Eine unrühmliche Rolle spielen die Journalisten einer Boulevard-Illustrierten. Eine Geiselnahme endet schließlich tragisch. Aber: Fassbinder drehte damals auch einen alternativen Schluss, bei dem die Geiselnehmer aufgeben und alles ein glückliches Ende nimmt. In dieser Fassung wurde der Film in Amerika gezeigt: Mother Kusters’ Trip to Heaven.

Literatur: Richard Collins: WDR and the Arbeiterfilm. BFI 1981. Jörg Drews (Hg.): Literaturkritik – Medienkritik. Heidelberg 1977 (mit einem Text von Wolfgang Gast und Gerhard R. Kaiser über „Kritik der Fernsehspielkritik“ am Beispiel von Rainer Werner Fassbinders Acht Stunden sind kein Tag).

Text im Booklet zu DVD und Blu-ray, veröffentlicht im Februar 2017.