Texte & Reden
04. Februar 2016

Spionage, Schiwago und Swinging Sixties

Text für den Filmdienst

Was bot das Kinojahr 1966 international?

1966. Seit fünf Jahren trennt die Mauer als Symbol des Kalten Krieges West und Ost. Auch die Filmlandschaft ist natürlich geteilt. Die „Berlinale“ – gegründet zur Stärkung von Westberlin – findet bereits zum 16. Mal statt. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt eröffnet sie am 24. Juni in der Kongresshalle (heute: Haus der Kulturen der Welt). Als Europäische Erstaufführung wird die Komödie Die Russen kommen, die Russen kommen… von Norman Jewison gezeigt, eine etwas naive Satire, die mit einer vermuteten sowjetischen Invasion an der amerikanischen Ostküste beginnt und mit einer gemeinsamen Hilfsaktion von Russen und Amerikanern für ein verunglücktes Kind endet. Der Film läuft „außer Konkurrenz“.

1966.1Den „Goldenen Bären“ erhält am Ende Roman Polanski für seine Gewalt-Parabel Wenn Katelbach kommt, die uns variantenreich an der Konfrontation eines Ehepaars mit zwei Gangstern auf einem alten schottischen Schloss teilhaben lässt. Der Regisseur lebt da schon im Exil: Er hatte Polen im Sommer 1962 in Richtung Westen verlassen und sich in London niedergelassen. Solche Emigrationen sind damals keine Seltenheit.

West- und Ostberlin. Und ein »fun picture«, mitten im Kalten Krieg

Und es blüht das Genre Spionagefilm. Der vierte James-Bond-Film, Feuerball, war bereits im Dezember 1965 in die westdeutschen Kinos gekommen. Zum großen Erfolg wird Der Spion, der aus der Kälte kam von Martin Ritt, nach dem Roman von John le Carré, mit dem Schauplatz Ostberlin und herausragenden Schauspielern: Richard Burton, Claire Bloom, Oskar Werner.

1966.2.Auch Alfred Hitchcock begibt sich auf dieses Terrain. Sein Film Der zerris-sene Vorhang erzählt von der Spionagetätigkeit eines amerikani-schen Wissenschaftlers (Paul Newman), der mit seiner Verlobten (Julie Andrews) in Ostberlin und Leipzig fehlende Formeln für ein Raketenabwehrsystem auskundschaftet und am Ende in einer waghalsigen Flucht nach Schweden entkommt. Es ist Alfred Hitchcocks 50. Film. Große Qualitäten hat Finale in Berlin von Guy Hamilton mit Michael Caine nach einem Roman von Len Deighton, das Mittelstück der Trilogie um den britischen Agenten Harry Palmer. Auch hier sind West- und Ostberlin die Dreh- und Angelpunkte einer spannenden Geschichte.

Eine Überraschung ist Modesty Blaise – die tödliche Lady von Joseph Losey mit Monica Vitti in der Titelrolle. Der Film verortet seine Story nicht im Kalten Krieg, sondern im Mittelmeer, es geht um Öl, einen Scheich und den Gangster Gabriel (Dirk Bogarde), von dem man am Ende nicht weiß, ob er überlebt. Losey bezeichnete seinen Film als „fun picture“. Er ist im Kontext seines Gesamtwerks eher ungewöhnlich.

Truffaut, Schlesinger, Antonioni – und Doktor schiwago

Das englische Kino hatte in den 1960er-Jahren eine besonders produk-tive Zeit. François Truffaut drehte 1966 in den Pinewood Studios den Science-Fiction-Film Fahrenheit 451 nach einem Roman von Ray Bradbury: die Vision eines Lebens ohne Bücher in einem Polizeistaat der Zukunft und das Porträt des aufsässigen Feuerwehrmanns Montag (Oskar Werner), der eine persönliche Utopie realisiert. Darling von John Schlesinger zeigt den Egotrip eines Playgirls (Julie Christie), bei dem mehrere attraktive Männer (darunter Laurence Harvey und Dirk Bogarde) auf der Strecke bleiben. Ein Antiheld steht im Mittelpunkt von Der Verführer lässt schön grüssen von Lewis Gilbert mit Michael Caine als Vorstadt-Casanova Alfie (so auch der Originaltitel), der mit vielen Frauen Verhältnisse eingeht, aber am Ende einsam zurückbleibt. Das London der „Swinging Sixties“ ist der Hintergrund zahlreicher englischer Filme jener Jahre. 1966 dreht Michelangelo Antonioni dort Blow Up.

1966.3.Von einer Erneuerung Hollywoods ist damals noch wenig zu spüren, „New Hollywood“ kün-digt sich erst vorsichtig an. Der wohl größte Erfolg des Jahres 1966 auch in der Bundes-republik ist Doktor Schiwago, David Leans Verfilmung des Romans von Boris Pasternak. Das Buch wurde schnell ein Bestseller, die Erwartungen an den Film (gedreht in 70mm) waren immens. Die Geschichte des Arztes Schiwago (Omar Sharif) in der russischen Revolutionszeit und sein Schwanken zwischen zwei Frauen (Lara: Julie Christie/Tonja: Geraldine Chaplin) hatte die Dimension eines großen Melodrams.

1966.4.Bei der „Oscar“-Ver-leihung am 18. April 1966 gab es einen spannenden Zwei-kampf zwischen Doktor Schiwago und dem Musical Meine Lieder – Meine Träume (Sound of Music) von Robert Wise, einem zu Herzen gehenden Film über die singende Trapp-Familie, die 1938 aus Österreich in die USA emigrierte. Der aufwändig inszenierte Film mit Julie Andrews und Christopher Plummer in den Hauptrollen war – wie Doktor Schiwago – in zehn Kategorien nominiert. Am Ende bekamen beide Filme fünf „Oscars“, Meine Lieder – Meine Träume allerdings die wichtigeren: bester Film, beste Regie, beste Kamera; nur bei der Musik waren sie auf gleicher Höhe: Doktor Schiwago wurde für die Originalmusik von Maurice Jarre ausgezeichnet, Meine Lieder – meine Träume für die adaptierte Musik von Irwin Kostal. Mich haben damals beide Filme optisch und musikalisch beeindruckt.

Frischer Wind dank »Nouvelle Vague«

1966.Phantastische ReiseGern erinnere ich mich auch an einige andere amerikanische Filme aus dem Jahr 1966, zum Beispiel an Wer hat Angst vor Virginia Woolf? von Mike Nichols, Ara-beske von Stanley Donen, Wie klaut man eine Million? von William Wyler, Nevada Smith von Henry Hathaway und Die phantastische Reise von Richard Fleischer. Fleischers Science-Fiction-Film zeigt ein auf Mikrobengröße eingeschrumpftes U-Boot auf der Fahrt durch menschliche Blutbahnen in Richtung Gehirn; technisch hervorragend gemacht, originell in seiner Geschichte. Hathaways Spätwestern mit Steve McQueen hat große Genre-Qualitäten. Wylers Komödie mit Audrey Hepburn und Peter O’Toole ist ein originelles Alterswerk. Donens Agenten-Komödie lebt vom Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller, Gregory Peck und Sophia Loren. Nichols’ Verfilmung des Theaterstücks von Edward Albee profitiert von dem faszinierenden Zusammenspiel von Richard Burton und Elizabeth Taylor. Hinter der Kamera stand der jüngst verstorbene Haskell Wexler.

1966.Viva MariaMein Hauptinteresse aber galt damals dem französischen Film, also den Regisseuren der Nouvelle Vague: Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Eric Rohmer, François Truffaut. Chabrols neueste Produktion Der Tiger parfümiert sich mit Dynamit, ein Agentenfilm, den er selbst später als „Dummheit“ bezeich-nete, fand ich trivial und wenig originell. Godards Masculin – feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola lief im Wettbewerb der „Berlinale“, Jean-Pierre Léaud wurde als bester Darsteller ausgezeichnet. Der Film erzählt in einer fragmentarischen Form von fünf jungen Menschen im Pariser Winter 1965 und ist für mich einer der besten Godard-Filme geblieben. Die Nonne von Jacques Rivette war 1966 zwar in Cannes zu sehen, wurde dann aber verboten und kam erst 1967 in unsere Kinos. Eine „Goldene Palme“ in Cannes hatte Ein Mann und eine Frau von Claude Lelouch gewonnen, er wurde von vielen Kritikern aber sehr abschätzig beurteilt, und dem habe ich mich damals angeschlossen, obwohl Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant beeindruckend spielten. Wir fanden, dass die schönen Bilder den Film zu sehr dominieren. Viel positiver waren die Reaktionen auf Viva Maria! von Louis Malle, weil der Film ernst und komisch die Vollendung einer Revolution in einem lateinamerikanischen Staat durch zwei Zirkus-tänzerinnen zeigt (wunderbar: Brigitte Bardot und Jeanne Moreau) und auf hohem Niveau unterhält.

Filme aus Italien, der CSSR und der UdSSR

Mindestens zwei italienische Filme des Jahres 1966 müssen erwähnt werden: Django von Sergio Corbucci, weil er als früher Italowestern viele Nachahmer fand und Folgen bis hin zu Quentin Tarantino hatte, und Grosse Vögel, kleine Vögel von Pier Paolo Pasolini, weil er für mich zu den originellsten und auch formal interessantesten Filmen des Regisseurs gehört. Mit Totò und Ninetto Davoli als Vater und Sohn auf der Reise durch die italienische Provinz.

Die CSSR war damals das einzige Land im „Ostblock“, in dem noch eine bemerkenswerte künstlerische Freiheit herrschte. Beeindruckend: Das Geschäft in der Hauptstrasse von Ján Kadár und Elmar Klos, 1966 im ZDF-Fernsehen zu sehen; in der DDR lief er im Kino unter dem Titel Der Laden auf dem Korso: die Geschichte eines Tischlers, der in der Nazi-Zeit in einer slowakischen Kleinstadt als „Arisator“ tätig ist und sich für den Tod einer jüdischen Ladenbesitzerin schuldig fühlt. Heiterer, aber dennoch künstlerisch auf hohem Niveau: Liebe einer Blondine von Milos Forman, über die ersten Erfah-rungen einer tschechischen Fabrikarbeiterin (dargestellt von Hana Brejchová) mit Männern. Beide Filme wurden in Schwarz-weiß gedreht, das zu dieser Zeit zumindest den europäischen Film noch dominiert hat.

Wenigstens ein kurzer Blick in die damalige Sowjetunion: Tief beein-druckt hat mich der Film Feuerpferde von Sergej Paradshanow (Titel in der DDR: Schatten vergessener Ahnen), eine Romeo- und Julia-Geschichte aus den Karpaten, die sich den Zuschauern als Farbfilmfest vermittelt. Nur in der DDR war 1966 der Dokumentarfilm Der gewöhnliche Faschismus von Michail Romm zu sehen, der mit einer sensiblen Montage und einem essayistischen Kommentar den Nazi-Alltag enthüllte.

John Ford & Howard Hawks

1966.Red LineJahreszahlen sind auch gut für Überraschungen. Ich hatte nicht mehr in Erinnerung, dass 1966 zwei Filme meiner amerikanischen Lieblings-regisseure John Ford und Howard Hawks in unsere Kinos kamen. Sie gehören zwar nicht zu ihren Meister-werken, sondern werden eher dem Spätwerk zugerechnet, aber sie haben ihre speziellen Qualitäten. In John Fords Film Sieben Frauen stehen ausnahmsweise keine männlichen Helden im Mittelpunkt, sondern die Mitarbeiterinnen einer Laienmission im China der 1930er-Jahre. Mit Maßstäben der Political Correctness darf man den Film nicht messen, aber die Darstellerinnen (darunter Anne Bancroft und Flora Robson) sind „tough“, und die Kameraführung von Joseph LaShelle ist exzellent. Rote Linie 7000 von Howard Hawks spielt in der Welt des Autorennens mit frisierten Fords und Chevrolets. Drei Rennfahrer und ein Teamchef geraten in ihrem Verhalten auf der Piste und im Umgang mit Frauen in dramatische Konkurrenzen. Hawks arbeitete diesmal mit noch unbekannten Schauspielern zusammen; nur James Caan machte dann Karriere.

Auch nach 50 Jahren kann man sich noch an Filme erinnern, die man damals gesehen hat. Viele sieht man, zum Beispiel im Zusammenhang von Retrospektiven, mehrmals in seinem Leben. Dank DVD und Blu-ray ist das Flanieren durch die Filmgeschichte ohnehin einfacher geworden. Bei meiner Passage durch das Kinojahr 1966 habe ich einige Kontinente (Asien, Afrika, Lateinamerika) außer Acht gelassen. Sie spielten für mich offenbar erst später eine größere Rolle. Und bei der diesjährigen „Berlinale“-Retrospektive konzentrieren wir uns dann ganz auf Deutschland.

SCHLAGLICHTER 1966

Gründung

Am 17. September 1966 wurde die Deutsche Film- und Fernsehaka-demie Berlin (dffb) gegründet. Ihre ersten Direktoren waren Erwin Leiser und Heinz Rathsack. Zu den Studierenden des ersten Jahrgangs gehören Hartmut Bitomsky, Harun Farocki, Wolf Gremm, Holger Meins, Thomas Mitscherlich, Wolfgang Petersen, Helke Sander, Daniel Schmid und Christian Ziewer. Rainer Werner Fassbinder scheiterte an der Aufnahmeprüfung. 1967 wurde die Münchner Hochschule für Fernsehen und Film gegründet.

Deutscher Filmpreis

Am 26. Juni 1966 wurde in Berlin zum 16. Mal der Deutsche Filmpreis verliehen. Mit einem Filmband in Gold wurden Der junge Törless von Volker Schlöndorff und Es von Ulrich Schamoni ausgezeichnet, mit einem Filmband in Silber der abendfüllende Dokumentarfilm Der vorletzte Akt von Walter Krüttner. Ein Filmband in Gold erhielten u.a. die Regisseure Volker Schlöndorff (Der junge Törless) und Ulrich Schamoni, die Darstellerin Sabine Sinjen, der Nachwuchs-schauspieler Bruno Dietrich, der Kameramann Gerard Vandenberg (alle für Es) und der Komponist Hans Posegga (Schonzeit für Füchse).

Abschied

In Deutschland starben 1966 der Schauspieler Robert Graf, die Schauspielerin Sabine Thalbach, der Produzent Erich Pommer, die Regisseure Josef von Baky, Erich Engel und Wolfgang Langhoff, der Kameramann Karl Hasselmann, der Szenenbildner Hans Dreier, der Schriftsteller und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer, in den USA die Schauspieler Montgomery Clift, Herbert Marshall und Clifton Webb, der Schauspieler und Regisseur Buster Keaton, der Regisseur Robert Rossen, der Produzent Walt Disney, in Frankreich der Regisseur Edmond T. Gréville.

Filmbuch

In Paris erschien 1966 das Buch »Le Cinéma selon Hitchcock« von François Truffaut, ein 50-Stunden-Interview des jungen französischen Regisseurs mit dem Hollywood-Altmeister. Es wurde zu einem der berühmtesten Filmbücher der Welt, weil Hitchcock noch nie so ausführlich über seine Arbeit gesprochen hatte. Der letzte in jenem Interview behandelte Film war Der zerrissene Vorhang. (Truffaut und Hitchcock haben ihr Gespräch später fortgesetzt; die vollständige deutsche Ausgabe des Buchs erschien, herausgegeben von Robert Fischer, 1999.)