Texte & Reden
16. Juli 2012

Blick nach vorn und zurück

Text für die Festschrift „30 Jahre Filmfest München“

Das erste Münchner Filmfest fand bekanntlich in Hamburg statt. Das war im September 1979. Und weil der kurzfristig zum Festivalchef ausgerufene Reinhard Hauff immer in die Zukunft blickt, gab es dort auch keine Retrospektive oder Werkschau. Gezeigt wurden einfach die neuen Werke des nicht mehr ganz so neuen westdeutschen Films. Und es gab auch keine Förderpreise. Aber es wurde die Hamburger Filmförderung initiiert, von der in der Folgezeit viele profitiert haben.

Als vier Jahre später, im Sommer 1983, real das erste Münchner Filmfest stattfindet, heißt der Leiter Eberhard Hauff (Reinhards älterer Bruder), und er organisiert ein publikumsnahes Festival, bei dem noch keine Preise vergeben werden, aber eine erste Werkschau zu sehen ist. Sie ist der damals 33jährigen Belgierin Chantal Ackerman gewidmet. Ihre Filmografie wirkt noch sehr überschaubar, aber es ragt bereits ein Meisterwerk heraus: der dreieinhalbstündige Frauenfilm Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1974). Da lohnt es sich, auch ihre unbekannten Filme kennenzulernen.

Ein Jahr später wird das Filmfest zu einem Europäischen Filmfestival ausgerufen und die Werkschau ist wieder einer starken Frau gewidmet: der italienischen Regisseurin Lina Wertmüller, die in München sehr gefeiert wird. 1985 kommen die Männer: Paul Schrader aus New York, Mrinal Sen aus Kalkutta, und für Robert Altman aus L.A. wird erstmals eine Untersektion eingerichtet: „Tribute“; ein Gast reist an, man zeigt vier Filme, er verleiht der Veranstaltung zusätzlichen Glanz. So geschieht das in den folgenden Jahren mit Norman Mailer, Fanny Ardant, Stefania Sandranelli oder Ornella Muti. Die parallelen Werkschauen sind Regisseuren vorbehalten: dem Österreicher Axel Corti, dem Spanier Manuel Gutiérrez Aragón, dem DDR-Dokumentaristen Volker Koepp (zwei Jahre vor der Wende), dem Armenier Sergej Paradschanow, der einige bisher verbotene Werke und seinen noch unvollständigen letzten Film mitbringt, dem Mexikaner Arturo Ripstein, dem Koreaner Im Kwon-taek, den russischen Brüdern Nikita und Andrej Michalkow, dem Japaner Nagisa Oshima. Die Auswahl der Namen ist originell und mutig.

Aus Berlin – ich gebe es zu – schauen wir, was das Filmfest betrifft, in den 1980er Jahren etwas herablassend nach München. Die Berlinale ist natürlich die number one im Land, die Hofer Filmtage und die Mannheimer Filmwoche haben inzwischen ihre eigenen Profile. Aber München hat zwei Vorteile: die Sonne des Sommers und den Charme des Gastgebers Eberhard Hauff.

1989 gibt es eine Neuerung: mit Unterstützung der Hypo-Bank wird ein „Regie-Förderpreis für den Deutschen Film“ ausgelobt. Die Filme von sechs bis zehn Kandidaten sind Programmteil des Münchner Filmfests. Eine dreiköpfige Jury darf entscheiden. Erster Preisträger ist Uwe Janson für seinen Film Verfolgte Wege. Im Jahr darauf gehöre ich mit Klaus Keil und Matthias Deyle selbst zur Jury. Wir vergeben den Preis an Reinhard Münster für seinen Film Der achte Tag, einen eigenwilligen Thriller. Als Jury-Mitglied ist man privilegiert, wird vom Pressechef Lothar Just sehr persönlich betreut und lernt das Festival auch emotional schätzen.

In den 1990er Jahren fühle ich mich dem Filmfest auch als Stammgast eng verbunden. Zum zehnjährigen Bestehen, 1992, kommen Stanley Donen und Audrey Hepburn, und da möchte man nur niederknien. Da vergisst man sogar die Werkschau von Oshima. Andererseits gewinnt Wolfgang Beckers großartiger Debütfilm Kinderspiele den Hypo-Bank-Preis. Ein Höhepunkt im Jahr 93 ist die von Klaus Eder zusammengestellte Reihe „China – die fünfte Generation“. 24 Filme sind zu sehen, einer interessanter als der andere. So nahe bin ich diesem Land noch nie gekommen. Zwei selbstbewusste Männer dominieren 1994: Nanni Moretti und Michael Haneke. Und aus dem Filmhimmel schaut Orson Welles herunter. Die Retrospektive im Filmmuseum am Jacobsplatz, betreut von Robert Fischer, mit Oja Kodar als Gast, erfüllt alle Ansprüche. Da ich viele Jahre die Retrospektive der Berlinale geleitet habe, weiß ich, wieviel Arbeit in eine historische Filmreihe zu investieren ist.

Im Jahr des 100. Geburtstags des Kinos, 1995, sind es zwei Regisseure, die in München mit Werkschauen geehrt werden: Nicolas Roeg und Nelson Pereira dos Santos. Und ein Tribute gilt dem großen Budd Boetticher. Es sind Begegnungen, die man nicht vergisst. Robert Wise kommt 81jährig im Sommer 1996 nach München, es findet eine bewegende Vorführung seines Musicals The Sound of Music statt und oft hat man insgeheim mehr Lust auf die alten Filme als auf die neuen. Die Jury des Hypo-Bank-Preises trifft in diesem Jahr eine sehr eigenwillige Entscheidung. Gegen jede Erwartung gibt sie dem Film Die Mutter des Killers von Volker Einrauch den Vorzug vor Caroline Links Jenseits der Stille. Das haben wenige verstanden. Andererseits wird ein ganz neuer Preis eingeführt, weil inzwischen die Fernsehfilme auf dem Filmfest so etwas wie eine eigene Sektion bilden. Die Verwertungsgesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten stiftet zwei Preise, für einen deutschen und einen ausländischen Film. Ausgezeichnet werden hier jedoch die Produzenten und seit 2009 heißt der Preis in Erinnerung an den verstorbenen Produzenten, „Bernd Burgemeister Fernsehpreis“.

Mit der Amerikanerin Susan Sarandon und der Chinesin Ann Hui sind 1997 wieder zwei starke Frauen zu Gast – auf der Männerseite sorgen Jules Dassin und John Milius für die Balance. Dank der Autofirma Audi gibt es für Ehrengäste erstmals einen Preis: den „CineMerit Award“. Die ersten Preisträger sind Sarandon und Dassin. Und der Hypo-Bank-Preis wird ausnahmsweise auch mal geteilt: zwischen Oskar Roehler für Silvester Countdown und Martin Walz für Liebe Lügen.

Mit der Ehrung des Produzenten Eric Pleskow setzt Festivalchef Eberhard Hauff 1998 ein schönes Zeichen der Würdigung von Toleranz und Engagement. Pleskow, jüdischer Herkunft, kam 1945 als Filmoffizier nach München und gab positive Signale für den Wiederaufbau der Bavaria. Später produzierte er in Amerika mehrere mit einem Oscar ausgezeichnete Filme. Die große Retrospektive ist 98 dem Italiener Francesco Rosi gewidmet, und als Überraschungsgast kommt die New Hollywood-Legende Monte Hellman nach München. Man darf nicht vergessen, dass die Sektion der amerikanischen Independents seit Jahrzehnten zu den Highlights des Festivals gehört.

Auf Rosi folgt Roman Polanski, auf Polanski folgt Milos Forman. Es sind große Autorenfilmer, die in dieser Zeit in München geehrt werden. Und 2001 erhält der 93jährige Manoel de Oliveira den „CineMerit Award“. 1999 und 2000 gewinnen erstmals zwei Frauen den Hypo-Bank-Preis: zunächst Maren-Kea Freese für Zoe und dann Vanessa Joop für Vergiss Amerika. Ab 2002 wird aus dem Regiepreis ein „Förderpreis Deutscher Film“, der in den Sparten Regie, Produktion, Drehbuch und „Schauspiel“ (männlich/weiblich) vergeben wird. Im Vorfeld erzeugen Nominierungen eine größere Spannung. Zur Hypo-Bank gesellen sich die Bavaria und der Bayerische Rundfunk als Geldgeber, es geht jetzt um insgesamt 60.000 €. In der Sparte Regie dominieren in den folgenden Jahren die Männer: Michael Hofmann, Hans Steinbichler, Hans Weingärtner, Marcus H. Rosenmüller, Simon Groß, Timo Müller machen auf sich aufmerksam, und sie nutzen ihren Preis für eine weitere Regiekarriere. Dazwischen, 2005, keineswegs versteckt, erhält die mongolische Regisseurin Byambasuren Davaa die Auszeichnung für ihr Weinendes Kamel.

Zum 20. gibt es eine ungewöhnliche Werkschau mit den Dokumentarfilmen von D.A. Pennebaker & Chris Hegedus. Amerikanische Wirklichkeiten der 1960er und 70er Jahre. Und in einem anderen Kino sind parallel die Filme des Serben Goran Paskaljevis zu sehen. Kontraste bei einem Filmfest können ästhetisch und politisch sein.

2003 nimmt Eberhard Hauff nach 21 Filmfesten Abschied von der Leitung. Er darf für sich in Anspruch nehmen, in München ein Festival etabliert zu haben, das ein großes Publikum findet und viele Neugierige in die Stadt bringt. Den letzten CineMerit Award seiner Amtszeit überreicht er Geraldine Chaplin. Dann übergibt er an seinen Nachfolger Andreas Ströhl.

Werkschau, Tribute und Förderpreise bleiben dem Filmfest erhalten. Auch in den folgenden Jahren sind es vor allem große Regisseure, die mit Retrospektive geehrt werden: die Finnen Aki und Mika Kaurismäki, der Japaner Kiyoshi Kurosawa, die Makhmalbafs aus dem Iran, die Engländer Mike Figgis und Stephen Frears. Zwischendurch darf es dann schon mal ein Heimspiel geben, wenn 2005 Mario Adorf zum 75., 2007 Werner Herzog zum 65. und 2008 Herbert Achternbusch zum 70. Geburtstag gratuliert wird. In einer schnelllebigen Zeit verblassen auch starke Erinnerungen, da muss sich ein Festival in die Pflicht nehmen. Oder, wie bei Adorf, die Popularität eines Stars für sich nutzen.

Die Blicke bei einem Filmfestival sind nach vorn gerichtet, auf eine Leinwand und auf Filme, die man noch nicht kennt. Neugierig ist das Publikum zunächst auf die neuen Filme, es will teilhaben am Privileg der Uraufführung, mitreden bei der ersten Urteilsfindung, einbezogen sein in die unmittelbare Aktualität. Der kritische Umgang mit den Filmen der Gegenwart wird auch definiert durch die Präsenz der Filme aus der Vergangenheit. Neue Filme sind immer – in der unterschied-lichsten Weise – Resultate von älteren, selbst wenn sie bewusst eine Tradition negieren oder ihre Ästhetik individuell definieren. Der Blick zurück relativiert. In der Aufgeregtheit der aktuellen Konkurrenz um Preise und allgemeine Aufmerksamkeit sorgt eine Retrospektive für Ruhe und Übersicht.

Ja, das wichtigste für ein Festival sind gute neue Filme. Zu seinem kulturellen Klima gehört aber auch ein Bewusstsein von den alten Filmen. Sie bekommen keine Preise, aber sie erinnern uns gelegentlich an Maßstäbe.