Texte & Reden
13. April 2010

Magnum am Set – Filmfotografie

Vortrag. Kulturforum Bayerische Versicherungskammer, München

 

Sehr geehrter Herr Schubring-Giese, sehr verehrter Erich Lessing, liebe Isabel Siben, liebe Frau Holzherr, meine Damen und Herren,

vor 15 Jahren, zum 100. Geburtstag des Kinos, wanderte eine Ausstel-lung mit dem Titel „Magnum Cinema“ durch die Welt. Sie erzählte in beeindruckenden Bildern, wie Magnum-Fotografen die Filmgeschichte ein halbes Jahrhundert begleitet haben. Der opulente Katalog mit Hitchcock auf den Titel erschien damals, wo auch sonst, bei Schirmer/ Mosel.

Die Ausstellung der Versicherungskammer Bayern, die heute eröffnet wird, ist etwas bescheidener. Sie konzentriert sich auf zwölf Filme, bei deren Dreharbeiten Magnum-Fotografen vor Ort waren. Filme aus den Jahren 1952 bis 1984, vor allem amerikanische Filme, von großen Regisseuren, mit berühmten Stars. Man kann in dieser Auswahl eine Art Essenz des damaligen Überblicks sehen und eine spezielle Würdi-gung der Beziehungen zwischen Film und Fotografie. Diese Beziehun-gen sind intensiv vor allem aus der Perspektive des Films. Die Foto-grafie braucht keine Unterstützung durch bewegte Bilder, sie ist eigen-ständig als Kunst, als Hobby, als subjektiver Blick auf das Leben, die Zeit und die Welt.

Der Film, auch wenn er längst eine eigenständige Kunst ist, lässt sich seit seiner Erfindung von der Fotografie begleiten. Er braucht sie, um auf seine Existenz im Kino, im Fernsehen oder auf dem iPad aufmerk-sam zu machen. Fotos sind für die Selbstdarstellung des Films noch immer unverzichtbar. Sie reproduzieren die magischen Momente, für die das Kino zuständig ist. Wir sehen die fotografischen Bilder in Zeitungen, Zeitschriften, Magazinen und Büchern, im Kinofoyer oder auf der Verpackung der DVD. Szenenfotos, Werkfotos, Starfotos. Ihre Präsenz ist mit dem Wort Werbung nur unzureichend beschrieben. Sie haben eine Signalwirkung, sie sind mediale Gegenwart und natürlich auch subjektive Erinnerung.

In den letzten Monaten haben uns zwei ungewöhnliche filmische Motivketten begleitet. Die eine besteht aus Schwarzweißbildern: Kinder küssen ihren Eltern die Hand. Ein Mädchen erwartet den Kelch beim Abendmahl. Ein Junge schaut weinend & trotzig seinem Vater in die Augen. Eine Scheune brennt lichterloh. Und vor allem: Fünf Mädchen in langen Röcken gehen über eine Dorfstraße, wir sehen sie von hinten. Bilder aus dem Film DAS WEISSE BAND  von Michael Haneke. Der Staffellauf der Fotos begann im Mai 2009, mit der „Goldenen Palme“ in Cannes. Im Oktober 2009 hatte der Film seine deutsche Premiere, im Dezember gewann er den Europäischen Filmpreis, im Januar 2010 den Golden Globe, im Vorfeld der Oscar-Verleihung im März bekam er eine neue Aktualität, und in der kommenden Woche, nach der Verleihung des Deutschen Filmpreises, wird es noch einmal diese Bilder geben. Sie haben uns dann fast ein Jahr begleitet. Auch wer den Film nicht gese-hen hat, kann die Bilder inzwischen identifizieren.

Eine zweite Kette in flirrenden, bläulich dominierten Farben zeigt men-schenähnliche Wesen mit großen Augen, langen Ohren und breiten Nasen, die auf dem Planeten Pandora leben und dort von Avataren besucht werden. Das visionäre Kino-Spektakel von James Cameron, inzwischen der erfolgreichste Film aller Zeiten, hatte ab Dezember 2009 über viele Wochen eine starke Bildpräsenz. Man sah die fremden Na’vis auf Flugdrachen, mit altmodischen Waffen, uns intensiv anblickend und wurde neugierig gemacht auf ein dreidimensionales Kinoerlebnis. Gelegentlich mischten sich Werkfotos mit dem Regisseur hinzu, weil er Teil der Vermarktung war. Auch ein Film, der von Simu-lation, Virtualität und Parallelwelten handelt, braucht fotografische Bilder, um uns zu locken.

Es ist in diesem Zusammenhang nur eine sekundäre Pointe, dass beide Filme nicht den vorausgesagten Oscar gewannen, der an Konkurrenten ging, von denen sich kein einziges Bild in uns verfestigen konnte.

Ich weiß zu wenig über die Kapazitäten unseres Bildgedächtnisses, und sicherlich gibt es da große Unterschiede zwischen den Menschen und vielleicht auch zwischen den Kulturen. Ich weiß nur, dass es Tausende an Filmbildern gibt, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Es sind Gesichter und Szenen, an die ich mich erinnern kann. Es ist dabei gar nicht so wichtig, ob diese Bilder in mir fest oder bewegt sind. Es sind zunächst einmal Bilder. Blicke von Greta Garbo, Marlene Dietrich oder Marilyn Monroe, von Humphrey Bogart, Gary Cooper oder James Dean. Momente aus Filmen, die so schöne Titel tragen wie gone with the wind, to be or not to be oder my darling clementine. Damit habe ich mich schon mal als Liebhaber des amerikanischen Films geoutet.

Aber ich füge gern hinzu, dass mir auch Blicke von Asta Nielsen, Maria Schell oder Hanna Schygulla viel bedeuten, dass mich Momente aus menschen am sonntag, unter den brücken, abschied von gestern und solo sunny berühren, weil sie mit mir, meinem Leben und meiner Liebe zum Film eng verbunden sind.

Ich muss mich dann aber auch mit Nazi-Filmen wie JUD SÜSS und OHM KRÜGER oder mit den stalinistischen Thälmann-Filmen aus der DDR auseinandersetzen, weil ein deutscher Filmhistoriker die Ambiva-lenzen in der Geschichte seines Landes nicht unterdrücken darf. Zu den Bildern gehören in diesem Land auch immer ihre Botschaften, ihre Subtexte.

Und dann gibt es natürlich die unvergesslichen Filme von Yasujiro Ozu, Ingmar Bergman, Michelangelo Antonioni oder François Truffaut, die Blicke von Setsuko Hara, Harriet Andersson, Monica Vitti  und Fanny Ardant. Ich verbeuge mich in diesem Zusammenhang vor den Kameramännern Yushun Atsuta, Gunnar Fischer, Gianni di Venanzo und Nestor Almendros. Und vor den Standfotografen, deren Namen in der Regel nicht bekannt sind. Das gilt für alle Filme, die ich eben genannt habe. Damit nähere ich mich wieder dem Thema dieser Ausstellung. Sie handelt von Filmfotos, von magischen Momenten, in denen der Fluss der Bilder zum Stillstand kommt.

In der Arbeitsteiligkeit der Filmproduktion waren für die so genannten Standfotos schon früh Spezialisten zuständig. Sie nahmen ihre Arbeit auf, wenn die Szene abgedreht war. Die Protagonisten mussten sich noch einmal positionieren, der Fotograf dokumentierte aus seinem Blickwinkel zwei oder drei Höhepunkte. Es ging um Action, um die Atmosphäre, um die Darsteller. Der englische Fotograf David Meadows hat die Funktion der Standfotos auf vier Ziele zugespitzt: Erstens sollen sie den Geldgebern zeigen, wohin ihr Geld geflossen ist, zweitens sollen sie die Begeisterung für den Film bei den Filmverleihern steigern, drittens sollen sie für den Film in Magazinen und Zeitungen werben, viertens sollen sie in den Foyers der Kinos gezeigt werden. Dass sie außerdem zu Sammlungsobjekten wurden, war ein Nebeneffekt.

Die Grenzen zwischen Standfoto und Starfoto sind fließend. In der Blütezeit des klassischen Hollywoodfilms waren die Fotografen Angestellte der Studios. Bis in die fünfziger Jahre wurden dort rund 300 Still photographers beschäftigt. Sie haben mit ihren Mitteln die Filme in Bilder übersetzt. Sie kannten die Drehbücher und darin die Plotpoints, sie wussten, welche Situationen wirksam zu fotografieren waren: Küsse, Blicke, Konfrontationen, Showdowns. Abnehmer der Pressefotos waren die Zeitungen und Zeitschriften, Abnehmer der Starpostkarten das Publikum und die Fans. Autogramme erhöhten den Markt- und Tauschwert. In den Fünfzigern verloren die großen amerika-nischen Studios an Einfluss und Macht.

Das war auch die Zeit, in der Magnum ins Spiel kam. Nicht im Bereich der klassischen Standfotografie, sondern in der Berichterstattung über das Filmgeschehen.  Gegründet wurde die Agentur 1947. Keiner der fünf Gründer war unmittelbar in der Filmproduktion tätig. Sie verstanden sich als Fotoreporter, arbeiteten an den Brennpunkten der Welt und interessierten sich unter anderem für Film.

Vor allem Robert Capa und Henri Cartier-Bresson hatten eine Affinität zum Kino. Capa war mit vielen Regisseuren und Schauspielern befreun-det, Cartier-Bresson hatte bei dem französischen Regisseur Jean Renoir assistiert. 1953 engagierte Magnum den umtriebigen John Morris als Chefredakteur, der im Filmbereich die Möglichkeit zu höheren Einnah-men sah. Capa öffnete einige Türen in Hollywood. Die Geschäftsbeziehungen waren oft personenbezogen und funktionierten zum Beispiel bei unabhängigen Regisseuren wie John Huston und Anatole Litvak, aber nicht bei den großen Studios, die noch immer ihre eigenen Bild-Departments hatten.

Magnum-Fotografen wurden tätig, wenn die Magazine „Life“ oder „Look“auf der Suche nach attraktiven Reportagen waren, sie hatten wenig mit den traditionellen Standfotografien zu tun. In Europa wurden die speziellen Hollywood-Fotos der Agentur noch kaum wahrgenom-men, hier begnügte man sich mit den Filmfotos der Produktions- und Verleihfirmen. Sie waren auch billiger zu haben.

Ein eigenes Kapitel der Magnum-Filmgeschichte ist die fotografische Begleitung des Films THE MISFITS von John Huston im Sommer 1960. Auf dem Set agierten drei große Stars, Marilyn Monroe, Clark Gable und Montgomery Clift, der Autor Arthur Miller war vor Ort, und John Huston galt als ziemlich verrückter Regisseur. Magnum durfte exklusiv fotografieren, schickte jeweils zwei Fotografen für zwei Wochen zu den Dreharbeiten, und als diese sich hinauszögerten, blieb Eve Arnold am Ende acht Wochen in der Wüste von Nevada, wo der Film gedreht wurde. Die sehr unterschiedlichen Bilder fügen sich zu einem erstaun-lich dichten Panorama eines ungewöhnlichen Abenteuerfilms.

Die Umbrüche im amerikanischen Kino der Sechziger hatten auch für Magnum Folgen. Das Fernsehen wurde mehr und mehr zum Leit-medium, dort fand auch die Werbung fürs Kino statt. Die Filmfotografie wurde immer stärker standardisiert, alles musste schnell gehen und billig sein. Für Qualitätsfotografie blieb da wenig Spielraum. Nur wenn ein Regisseur wie Michelangelo Antonioni auf einem Fotografen wie Bruce Davidson bestand, bekam Magnum eine Chance und war deshalb bei zabriskie point dabei.

Auch die Aufbrüche des „New Hollywood“ in den Siebzigern mit Regis-seuren wie Robert Altman, Francis Ford Coppola, Steven Spielberg und Martin Scorsese fanden ohne Magnum statt. Dabei hätte man sich doch Jack Nicholson oder Robert De Niro gut vor der Kamera eines Mag-num-Fotografen vorstellen können. Der Schwerpunkt der anspruchs-vollen Filmfotografie hatte sich inzwischen nach Europa verlagert. Es entstanden größere Magnum-Reportagen über die Arbeit von Regis-seuren wie François Truffaut, Jean-Luc Godard, Theo Angelopoulos oder Emir Kusturica. Bei Reisen in ferne Länder wurden von den Magnum-Fotografen auch die Filmstudios besucht: in Indien, Russ-land, China. Da stehen nicht einzelne Filme oder Regisseure im Zentrum, sondern die politische Situation, und in den exotischen Ländern wird nach der speziellen Magie des Kinos gesucht, die es sogar in Nordkorea oder in Indonesien gibt.

Die Ausstellung „Magnum am Set“ präsentiert Fotos zu zwölf Filmen, beginnend mit LIMELIGHT von Charles Chaplin. Der Magnum-Foto-graf Eugene Smith war im Winter 1951/52 auf dem Set in Culver City. Er arbeitete für das Life-Magazin und war vor allem an der Physiognomie des alternden Clowns Charlie Chaplin interessiert. Erich Lessing hat im Herbst 1955 die abenteuerlichen Dreharbeiten zu John Hustons MOBY DICK  begleitet. Es sind Werkfotos und Stills, die in ihrer physischen Realität noch heute riskant wirken. Als habe sich der Fotograf selbst in Gefahr begeben. Ich freue mich ganz besonders, dass wir Erich Lessing heute als Gast dieser Eröffnung begrüßen dürfen.

Die Fotos von Elliott Erwitt bei den New York-Aufnahmen zu THE SEVEN YEAR ITCH  von Billy Wilder dokumentieren die berühmte Marilyn-Szene über dem U-Bahn-Schacht und haben Werbegeschichte gemacht. Viermal ist der Magnum-Fotograf Dennis Stock in der Aus-stellung vertreten. Seine Aufnahmen zu den Filmen REBEL WITHOUT A CAUSE, THE ALAMO, THE MISFITS und PLANET OF THE APES  sind Starfotos und Werkfotos. Sie zeigen James Dean und John Wayne, die kokettierende Marilyn und die posierenden Affen. Es sind alles Schwarzweißfotos und insofern Signale aus einem Hollywood, das es längst nicht mehr gibt. Dennis Stock starb im Januar 2010 in Sarasota, Florida. Seine James Dean-Fotos haben einen eigenen Mythos.

Bert Glinn war der Magnum-Fotograf bei dem Psychodrama SUD-DENLY LAST SUMMER von Joseph Makiewicz, nach dem Theater-stück von Tennessee Willliams. Es sind Stand- und Werkfotos, die für einen Dialogfilm erstaunlich visuell wirken. Und sie rufen uns in Erinnerung, was für eine schöne Frau Elizabeth Taylor war. THE MISFITS  ist, wie schon gesagt, so etwas wie ein Magnum-Schlüssel-film. Neun Fotografen haben den Film begleitet, und sie hatten – auch wenn Marilyn Monroe deutlich im Mittelpunkt steht – viel zu fotografieren. Sie waren dabei mehr an den Menschen als an den Pferden interessiert.

Den PROZESS, die Kafka-Verfilmung von Orson Welles von 1962, hat Nicolas Tikhomiroff in Bildern dokumentiert, in denen das Spiel mit Licht und Schatten, wie es von Welles konzipiert war, adäquat gespie-gelt wird. Der Magnum-Fotograf Bruce Davidson kam auf ausdrück-lichen Wunsch von Michelangelo Antonioni zum Set von ZABRISKIE POINT  im Sommer 69. Die Landschaft und die Visionen des Regis-seurs sind in den Fotos dokumentiert. Das Flugzeug auf dem Katalog-titel stammt aus diesem Film.

Das Interesse des Fotografen Jean Gaumy bei den Aufnahmen zu Andrzej Zulawskis NACHTBLENDE mit Romy Schneider galt vor allem der Selbstinszenierung von Klaus Kinski. Von der Dreiecksgeschichte, in der ein Fotograf die Schlüsselrolle spielt, ist dagegen wenig zu sehen. Hier wird deutlich, welchen subjektiven Blick Magnum-Fotografen auf einen Film haben können.

Mit Inge Moraths Aufnahmen zu DEATH OF A SALESMAN, dem Volker Schlöndorff-Film von 1984, endet der 12er-Zyklus. Sie spannen im biografischen Subtext einen Bogen zu the misfits, dem anderen Arthur Miller-Film, bei dem sich der Schriftsteller und die Fotografin kennen gelernt haben. Mit Dustin Hoffman und John Malkovich standen noch einmal zwei Stars im Focus von Magnum.

Ich bin kein Spezialist für Filmfotografie, aber ich habe in den letzten Monaten gespürt, wie spannend dieses Thema ist. Der Blick zurück auf zwölf sehr unterschiedliche Filme, die hier durch die Magnum-Foto-grafen miteinander verbunden sind, war für mich nicht nur eine Reise in die Erinnerung, sondern ein Erkenntnisgewinn in der Beziehung zwischen Film und Fotografie. Dafür danke ich diesem Haus.

Schlussfrage: was hätte ein Magnum-Fotograf für Bilder vom WEISSEN BAND und von AVATAR aufgenommen? Wie hätte er uns als Bild-reporter das norddeutsche Dorf von 1913 und das ökologische Fantasia aus der Zukunft nahe gebracht? Er hätte es mit zwei sehr dominanten Regisseuren zu tun gehabt, die keine neugierigen Beobachter dulden. Er hätte wohl wenig Chancen für einen eigenen Blick gehabt. Der Stand-fotograf des WEISSEN BANDES wird in den Schlusstiteln nicht genannt, der Still Photographer von AVATAR heißt Mark Fellman. Sein Name ist im Nachspann zwischen tausend anderen verborgen. So haben sich zwei Fotografen ohne Credit in die Filmgeschichte ein-geschrieben. Das unterscheidet sie von den Magnum-Fotografen, deren Bilder wir heute bewundern dürfen.

Ich wünsche der Ausstellung „Magnum am Set“ viel Erfolg und Ihnen allen einen interessanten Abend.

München, Kulturforum der Bayerischen Versicherungskammer, 13. April 2010