LE PROCÈS (1962)

Text für eine Publikation des Verlages Schirmer/Mosel

Was passiert, wenn der Text eines großen Dichters in die Hände eines genialen Filmregisseurs gerät? Konkret: Kafka & Welles. Es gibt auf diese Frage nur die Antwort: der Film muss seine eigene Form finden. Adaption heißt nicht Anpassung. Schon das Wort „Verfilmung“ hat einen falschen Unterton.

Der Roman „Der Prozess“ von Franz Kafka stammt aus dem Jahr 1923. Der Film von Orson Welles entstand 1962. Die zeitliche Differenz ist dem Film eingeschrieben. Er kann nicht auslassen, dass es inzwischen den Nationalsozialismus gab und den Holocaust. Wir sehen KZ-Visionen und Folterungen, die bei Kafka nicht vorkommen.

Kafka und das Kino – das ist ein eigenes Kapitel. Hanns Zischler hat darüber ein ganzes Buch publiziert. Man kann dort schon die radikalste Kritik am PROZESS-Film von Welles lesen, formuliert vom Autor selbst: „Die Raschheit der Bewegungen und der schnelle Wechsel der Bilder zwingen den Menschen zu einem ständigen Überschauen. Der Blick bemächtigt sich nicht der Bilder, sondern diese bemächtigen sich des Blickes. Sie überschwemmen das Bewusstsein.“ Als Kafka das sagte, war das Kino noch weit von seinen avancierten Formen entfernt. Auch der Film von Welles neigt zu optischer Überwältigung. Er setzt ein mediales Bewusstsein seiner Zuschauer voraus. Es ist eine müßige Frage, ob er Kafka gefallen hätte.

Andererseits hält sich Welles überraschend eng an die Struktur des Romans. Es gibt wörtlich übernommene Dialoge und natürlich die notwendigen Straffungen und Veränderungen. Der Angeklagte Josef K. gerät unter die Aufsicht einer Justizbehörde. Er weiß nichts Genaues über die Legitimation und die Absichten seiner Richter. Drei Frauen kreuzen seinen Lebensweg. Er fühlt sich von ihnen angezogen, aber er kann ihnen nur mit Schuldgefühlen begegnen. Auch ein Anwalt (dargestellt von Orson Welles) kann ihm nicht helfen, sondern nur bildhaft die Metapher „Vor dem Gesetz“ erklären. Josef K. wird am Ende zum Tode verurteilt und sprengt sich in die Luft.

Die Bilder (Kamera: Edmond Richard) sind expressiv. Lampen schaukeln, Kerzen kleckern, die Kamerastandpunkte sind überhöht oder bodennah, die Tiefenschärfe wird eindrucksvoll genutzt, das Weitwinkelobjektiv erzeugt verfremdende Perspektiven. In der Parallelität zur „Nouvelle Vague“ und dem englischen Realismus wirkt der Stil wie aus der Zeit gefallen.

Die Montage ist genial in der Verbindung der Schauplätze. Das Gericht ist im alten, labyrinthischen Pariser Bahnhof Orsay lokalisiert, den Josef K. durch das Portal des römischen Justizpalastes verlässt, um anschließend ein extrem niedriges Untermietzimmer zu betreten, das Welles in der sozialistischen Nachkriegsmoderne Jugoslawiens gefunden hat. Die Architektur wird so zu einer vielschichtigen Verbindung der Personen.

Der Film ist prominent besetzt. Anthony Perkins spielt sensibel einen verwirrten Josef K., Welles den Anwalt Hastler, Wolfgang Reichmann den Gerichtsdiener, Thomas Holtzmann einen Jurastudenten. Jeanne Moreau, Elsa Martinelli und Romy Schneider sind die drei Frauen, die Josef K. mit Zuneigung begegnen, die er nicht zu erwidern vermag.

Orson Welles konnte den Film dank einer Produktionsgarantie der Brüder Salkind relativ unabhängig realisieren. Wenn alle Bilder zu einem Ende gekommen sind, verabschiedet er sich aus dem Off mit einem Schlusssatz, der traditionell seine Credits beschreibt: „Ich habe den Advokaten gespielt, das Buch geschrieben und Regie geführt. Ich heiße Orson Welles.“

Der Fotograf Nicolas Tikhomiroff hat im Frühjahr 1962 die Dreharbeiten begleitet. Sein Blick ist gerichtet auf Licht und Schatten, auf Welles, Perkins und Schneider, auf Schauplatz und Kulisse. Bilder über die Magie des Bildermachens.

Magnum am Set. Verlag Schirmer/Mosel 2010

Foto: Nicolas Tikhomiroff