Karsten Witte und die Deutsche Kinemathek

Text für eine Publikation des Kadmos Verlages

Der freie Mitarbeiter

Die Annäherung zwischen Karsten Witte und der Deutschen Kinemathek begann in kleinen Schritten Mitte der siebziger Jahre. Peter W. Jansen und Wolfram Schütte gaben damals im Carl Hanser Verlag die „Reihe Film“, genannt die „Blaue Reihe“, in enger Kooperation mit der Kinemathek heraus. Für die Autoren wurden kleine Retrospektiven organisiert, die in Berlin oder Frankfurt stattfanden. Der neunte Band, erschienen 1976, war drei Protagonisten des neuen deutschen Films gewidmet: Herzog/Kluge/Straub. Karsten Witte verfasste für den Straub-Teil die Kommentierte Filmografie und führte das Interview mit Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Sein Text über die damals acht vorliegenden Straub-Filme ist in seiner Genauigkeit und spezifischen Sensibilität noch heute lesenswert. Er öffnet Augen und Ohren. Für den fünfzehnten Band der Reihe – Robert Bresson – reiste Karsten im Herbst 1977 nach Paris und machte ein ausführliches Interview mit dem Regisseur. Er hatte das Gefühl eines großen Einvernehmens, schickte Bresson den transkribierten Text und erlebte eine große Enttäuschung: sein Gesprächspartner verbot mit Hilfe seiner Agentin die Veröffentlichung und bot stattdessen eine neu formulierte Version an, mit der Karsten nicht einverstanden war. Die Unvereinbarkeit der Haltungen ist im Buch dokumentiert in der Form zweier Briefe: Bressons ist kalt und im Grunde langweilig, Karstens ist stark in seiner Emotion und spannend in dem Versuch, Bressons taktisches Verhalten zu attackieren. Ich erinnere mich, dass er sich durch die unerwartete Distanzierung des Interviewten tief verletzt fühlte. In den achtziger Jahren hat Karsten Witte noch an den beiden Bänden über Bernardo Bertolucci (Essay/Interview) und Francesco Rosi (Interview) mitgearbeitet.

Als Wolf Donner 1977 die Leitung der Berliner Filmfestspiele übernahm, übertrug er die Verantwortung für die filmhistorische Retrospektive der Deutschen Kinemathek. Die ersten Themen waren Marlene Dietrich (zwei Teile), das „Kino des Phantastischen 1933-1945“ und „Zensur: im Dritten Reich verbotene deutsche Filme“. Die deutsche Filmgeschichte sollte stärker in den Fokus genommen werden. Karsten verfasste zu diesem Plan einen sarkastischen Text für die Frankfurter Rundschau:

„Nun kommen sie wieder, jene Filmbesucher, gerufen von Marlene, Ilse Werner, Grete Weiser, Willy Fritsch und Heinz Rühmann und machen sich auf ins ‚Astor’ am Kurfürstendamm, das ohnehin nicht nur zur Berlinale-Zeit als Domizil der Filmerinnerung, behagliche Nische des kleinbürgerlichen Kinoidylls, den Senioren dient. Die Teppichhändler der Nostalgie erwarten sie schon im Foyer: mit handkolorierten Fanpostkarten und selbstgestochenen Radierungen von Marlene, mit zusammengekleisterten Machwerken der Verklärung, die wie Schokoladeneis bis in die Reihen getragen werden, mit schummrigen Chansons (Marlene singt) vom stehengelassenen Koffer in Berlin. Da richten die seriösen Informationen der Stiftung Deutsche Kinemathek, an der Kasse vertrieben und über Lautsprecher in den Saal geflüstert, keine Korrektur aus. Das Aneignungsinteresse, von den Veranstaltern als filmkundlich legitimiert, wird durch die Aneignungspraxis nostalgisch überformt.“ Und nach einem längeren Kommentar über die während der Nazizeit verbotenen deutschen Filme schreibt Witte am Ende: „Die Narren der Nostalgie sind Schlafwandler, die Lampen des Projektors ihr Mondlicht, alte Filme ihre Sucht. Wenn wir die Beschäftigung mit diesen Dokumenten solchen Liebhabern überlassen, riskieren wir, dass die Öffentlichkeit dem riskanten Umgang mit brisanten Zeugnissen der Zeitgeschichte ausweicht.“

Es hatte eine Logik, diesen Provokateur als Autor ins Boot zu holen, zumal er sich gerade als Herausgeber und Übersetzer der Werke von Siegfried Kracauer hervortat und seine Kompetenz für die deutsche Filmgeschichte unbestritten war. So schrieb er für die Publikation „Wir tanzen um die Welt“ über deutsche Revuefilme 1933-1945 den beeindruckenden Essay „Gehemmte Schaulust“ und gibt schon im ersten Absatz die Richtung vor:

„Das Wort ‚Revue’, im allgemeinen Sinne ‚Rundschau’, begann sehr rasch einen spezifischen Sinn, den der militärischen Truppeninspektion, der Parade anzunehmen, bevor sich die Nebenbedeutungen für ‚Bühnenschau’ oder Zeitschriftentitel auszweigten. Der Revuefilm des Dritten Reichs, dessen Ideologie ohnehin den Ursprung fetischisierte, durfte sich das Verdienst zuschreiben, diese sprachliche Wurzel im radikalen Sinne eingedeutscht zu haben. Im Revuefilm paradieren die zivilen Truppen, oft im Kostüm der Uniform und meistens in der Choreographie des kostümierten Gleichschritts. Daß Girls in  diesen Uniformen stecken, mag den erotischen Reiz erhöhen, erniedrigt ihn in Wahrheit aber durch die massenhafte Entindividualisierung jener Girls. Der Regisseur oder ‚Spielleiter’, wie es zeitgenössisch lauten mußte, inspiziert in den Revuegirls stellvertretend die weibliche Reservearmee, die die Heimat hält, noch als die Front der Männerarmeen zusammenbricht.“

Wittes Prämisse ist immer wieder die Benennung der Schnittpunkte zwischen Filmgeschichte und Zeitgeschichte. Und vor allem für die deutsche Filmgeschichte ist das auch unabdingbar.

Sein aufklärerischer Impetus hat die von ihm beschriebenen Nostalgiker, wenn sie seine Texte überhaupt wahrgenommen oder verstanden haben, tief verstört. Die Leserbriefe an die Kinemathek waren relativ unfreundlich, aber sie haben uns nur darin bestärkt, an Karsten als Autor festzuhalten und auf andere, wirklich neugierige Zuschauer zu hoffen. Mit der Zeit veränderte sich nicht nur das Astor, sondern auch die Anhängerschaft der Retrospektive. Keine Teppichhändler mehr im Foyer, keine Schlafwandler mehr im Publikum. Und das Aneignungsinteresse hat sich dann eher vergrößert. Karsten Witte verfolgte diese Veränderungen mit Aufmerksamkeit. Er schrieb in den Jahren 1980, 81, 82 für die „Frankfurter Rundschau“ über die Retrospektiven Billy Wilder, Peter Pewas und Curtis (Kurt) Bernhardt. Bei der Exil-Retrospektive war er dann wieder als Autor dabei mit einem schönen, zugeneigten Text über die Schauspielerin Dolly Haas, der akustisch in sein Thema einführt: „Ihr Name beginnt, als klänge eine Kessheit an. Er endet, als hielte jemand erschrocken von dem Lärm auf die angeschlagene Glocke seine Hand. Der Tusch, mit dem Dolly auftritt, wird durch Haas gedämpft, die Härte, die mitschwingt, weich abgefangen. Das Publikum begrüßt sie mit Aplomb, in dem das Erstaunen steckt, wie ungewöhnlich ihre gewöhnliche Erscheinung wirkt. Auf Wilhelminisch-Berlinisch hieße es: Donnerwetter, dolle Person.“

Und weil es dann wirklich zur Person und zur Sache geht, hier auch noch der zweite Absatz: „’Dolly’, das ist auch ein Kamerawagen, der nicht in starren Schienen läuft. Dolly Haas ist kein Begriff eines Stars, der in Schönheit erstarrt. Dolly Haas wird ein Star in Bewegung, der Schönheit seinen Gesten abgewinnt. Dolly Haas ist kein Gesicht, sie hat ein Gesicht, das sich ausgreifend mimisch-pantomimisch in den Sprüngen ihres Körpers fortsetzt. Ihr Witz ist die Wendigkeit, ihr Charme die Flinkheit, und ihre Schönheit ist die Leichtigkeit. Sie schreitet nicht, sie läuft; und wo Gefahr droht, wächst ihr Rettung durch Hakenschlagen.“ Wer Dolly Haas und ihre Filme kennt, weiß, dass sie besser kaum zu umschreiben sind.

Bei der Ernst Lubitsch-Retrospektive 1984 suchte sich Karsten drei Filme aus, die er in der Publikation kommentierte: schuhpalast pinkus (1916), forbidden paradise (1924) und the shop around the corner (1940). Er erkennt dabei genau, was den so genannten Lubitsch-Touch ausmacht, und kann sich die Zuspitzung leisten: „Ernst Lubitsch verkörperte den sinnlichen Mehrwert, den das Kino immer verspricht und selten einlöst.“ Oder bei the shop around the corner konstatieren: „Vor dem Happyend steht die Blickprobe; vor dem Versöhnungskuß und Stewarts systematisch betriebener Desillusionierung der Romantik steht die sinnliche Neugierde von Sullavan auf Stewarts Beine. Im Melodram können Blicke töten; in der Komödie beleben sie, was durch die Konvention, den Takt und guten Ton erstarrte. Nämlich das Interesse der fünf Sinne, oder anders gesagt, die Neugier des Menschen für den Menschen, die mit einer sanktionsfreien Schamverletzung beginnen muß, ehe der Zustand der Liebe erkannt werden darf. Deshalb tötet Lächerlichkeit bei Lubitsch niemanden. Alle werden noch gebraucht. Jeder Körper muß zeigen, wie schwer es ist, mit einer Blickverletzung weiterzuleben.“ Immer wieder sieht Karsten Witte das Allgemeine im Speziellen, weil er auch das Detail entdeckt und es in einen größeren Zusammenhang stellen kann. Mitte der Achtziger schreibt er Texte über die Retrospektiven Fred Zinnemann und Rouben Mamoulian für die Frankfurter Rundschau.

In den Jahren 1989 und 1990, die einen Umbruch in Deutschland bedeuten, handeln die Retrospektive von den Jahren 1939 und 1945. Die Themen wurden festgelegt, als von den Veränderungen noch nichts zu ahnen war. Karsten Witte schrieb den zentralen Essay für die Publikation „Europa 1939“, und der beginnt so: „Noch im Frieden und schon im Krieg, Aufrüstung und organisierte Auslandsreisen, müde Demokraten und glühende Faschisten, grandiose Heimat und elendes Exil, ein Rassenwahn als Religion, der noch die Verdammten zeichnete – das Europa des Jahres 1939 vollzog eine Wende in das Extrem der Erstarrung, in die schleichende Uniformierung der Vielfältigkeit. Durch eine Federstrich der Macht, die den Friedensmythos beschwor, um die Drohung des Krieges zu bemänteln, wurden Grenzen von Staat und Volk gelöscht, um Raum zu schaffen für die Eroberung, die man Neuordnung nannte – der Dinge, der Länder, der ideologischen Ansichten –, durch die eiserne Faust des sich großdeutsch dünkenden, dabei kleingermanisch denkenden Reiches. Je größer es wurde, desto kleiner wurde Europa, bis es ganz von der Landkarte verschwand. 1939 fand die letzte Vorstellung statt, dann schloß das Kino eines Kontinents. Als es nach dem Krieg neu eröffnete, entdeckten die Europäer den amerikanischen Film.“ So zugespitzt kann man einen politischen und filmhistorischen Wandel formulieren, wenn man es kann.

Für das Jahr 1945 wählte sich Karsten Witte als Autor einen speziellen Aspekt: die so genannten Überläufer, also Filme, die in der Nazizeit begonnen und nach dem Krieg vollendet wurden. Er konstatiert: „In den Überläuferfilmen von 1945 zerbrach die mühsam aufrechterhaltene Kongruenz von Propaganda-Intention und Kunstmitteln. Das Drehbuch, das bislang durch Vor- und Nachzensur die Durchsetzung der Propagandalinie ermöglicht hatte, löst sich defätistisch auf. Die Durchhaltefilme wie kolberg fallen der Erstarrung anheim, wie die Komödien (zum Beispiel ein toller tag) der Auflösung. Die Filmgenres im Produktionsjahr 1945 schlitterten nicht nur an den Zensurmechanismen vorbei, sondern auch an den Instanzen der künstlerischen Selbstkontrolle der Autoren, Regisseure und Schauspieler. Angesichts der nicht mehr drohenden, sondern schon eingetretenen Niederlage des Deutschen Reiches trug die Phantasieproduktion des Mediums Film die Dramaturgie der Resignation, der Vergeblichkeit, des Defätismus prägend in sich. In jeder Hinsicht herrschte ‚Bombenstimmung’: Sowohl die Angst wie die Heiterkeit waren durch Hysterie überformt.“ Auch hier wird das Zeitgeschehen zugespitzt. Wir sehen heute die Filme jenes Jahres mit der Kenntnis der politischen Brüche und werden sensibilisiert für die Vorgaben von Inhalt, Form und Zielrichtung. Das vermittelt uns ein Autor wie Karsten Witte im komplexen Zusammenhang.

Die „Blaue Reihe“ kam 1992 mit einem Band über den griechischen Regisseur Theo Angelopoulos zu ihrem Ende. Inzwischen war die „Edition Filme“ entstanden, an der sich die Deutsche Kinemathek bei einigen Bänden – zum Beispiel über die Regisseure Steven Spielberg, Fred Zinnemann, Wolfgang Staudte und Helmut Käutner – beteiligte. Karsten Witte schrieb den zentralen Essay über Helmut Käutner: „Im Prinzip Hoffnung“. Sein erster Absatz resümiert ein Gesamtwerk: „Bewundert viel und viel gescholten wurde das filmische Werk Käutners, das in seiner Zeit lag und doch stets quer zu ihr. Im Krieg wandte es sich dem Vorkrieg zu, im Nachkrieg widmete es sich den Kriegszeiten und als endlich Frieden schien, bedachte es den unerklärten Bürgerkrieg der Bundesrepublik. Jede Zeit kritisierte Käutner nicht als Zeitgenosse, sondern als Zeitabtrünniger, der in kritischen Gefechten und politischen Scharmützeln bloß eine Fahne hochhielt: die, die einen Ausweg in die Ironie oder einen zum dritten Ort wies.“ 36 Filme aus 30 Jahren galt es in den Blick zu nehmen: Komödien, Melodramen, Kriegsfilme und Satiren. Karsten hatte sich mit den Filmen vertraut gemacht und verschwand kurzfristig von der Bildfläche. Der Abgabetermin seines Manuskriptes verging, als Herausgeber fungierten Wolfgang Jacobsen und ich, wir begannen uns Sorgen zu machen. Dann erreichte uns ein Brief aus Paris:

„Chers amis, im Rausch einer wilden Woche habe ich endlich das Manuskript ‚Im Prinzip Hoffnung. Käutners Filme’ niedergeschrieben. Unordentlich getippt, aber scharf gedacht, im vagen Gefühl, die Essenz nicht zu packen und dann doch in der Sicherheit, sie phänomenal zu erfassen. Ein weiterer Versuch, Film in peripheren Texten, gleich nah zum Zentrum, gleich fern der gewohnten Deduktion zu beschreiben. Ich hoffe, Euch zu überzeugen. Ich bedaure die produktionstechnische Zumutung, die durch mein Zögern entstand. Ich war in den letzten Semesterwochen nicht in bester Form. Der atlantische Wind, die Deplacierung in dieser Stadt haben dem Text nicht geschadet. Ich danke Euch für das Vertrauen und die Langmut, die Ihr mir bewiesen habt. Was die Reduktion dieser 63seitigen Abhandlung angeht, habt Ihr freie Hand. Carte blanche. Eine Abstimmung Eures Spiels wäre mir gelegen. Bis Donnerstag, 23., bin ich hier, dann zu einem unnötigen Seminarausflug nach Luxemburg, ab Montag, 27. Juli wieder in Berlin. Und dann wird Metzlers Film/Geschichte angegriffen. Im Prinzip Hoffnung. Kann Hoffnung, fragt Adorno, denn Prinzip sein? Da das Farbband unter meinem heftigen Einfluss immer schwächer wird, breche ich hier ab. Mit freundlichen Grüßen, Karsten.“ An seinem Text war wenig zu reduzieren oder zu korrigieren, er war in der Tat scharf gedacht und pointiert geschrieben, er setzte seine Akzente in den vierziger und fünfziger Jahren, vernachlässigte die weniger gelungenen Filme und hat seine bleibende Bedeutung bei vier großen Käutner-Filmen: romanze in moll, unter den brücken, in jenen tagen und der rest ist schweigen. Ich denke, dass sich Käutner selbst mit diesem Text angemessen gewürdigt gefühlt hätte.

Konzipiert von Anton Kaes, herausgegeben von Wolfgang Jacobsen, Kaes und mir in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek, erschien 1993 die „Geschichte des deutschen Films“ im Verlag J. B. Metzler. Von Karsten Witte stammt das Kapitel „Film im Nationalsozialismus. Blendung und Überblendung“. Auch hier ist der Einstieg provokant: „Die rund tausend Spielfilme, die das ‚Dritte Reich’ den Nachkommenden hinterließ, sind ein verruchtes Erbe. Die meisten schlagen es aus, wenige nehmen es an. Diese gelten als Verharmloser der Hinterlassenschaft, jene neigen dazu, sie zu dämonisieren. Beide Schulen operieren auf vermintem Terrain und halten anstatt der verhandelten Materie einander für gefährlich. Jahrzehntelang ging die deutsche wie die internationale Forschung auf Kosten der Regelfrage den Ausnahmen nach. Immer wieder wurde ein Dutzend ostentativer Propagandafilme erfaßt und erforscht, während der Rest der Filme – mal banales, mal überdurchschnittlich gelungenes Genrekino – außer acht blieb. Das vorherrschende Erkenntnisinteresse galt einer Lektüre der Manifestationen von Propaganda. Der Unterhaltung billigte man bloß Latenz zu. Es dominierte die Vorstellung von Systemimmanenz und Totalisierungsverdacht. Das führte zur schlimmen Praxis, die schlimmen Filme im Namen der Kritik zu beschneiden oder mit historischem Material unterschnitten aufzubereiten.“ Witte untersucht den ganzen Nazifilm, die Propagandafilme (die so genanten „Ohrenfilme“) und die Unterhaltungsfilme („Augenfilme“). Sie sind ihm durch wiederholte Lektüre vertraut. Er setzt Hochbaums morgen beginnt das leben an den Anfang und endet mit Käutners unter den brücken, er konfrontiert Wolfgang Liebeneiners mustergatten mit Veit Harlans herrscher, schreibt über die Melodramen von Detlef Sierck, über Leni Riefenstahl, die Kriegsrevuen und – am ausführlichsten – über den infamen jud süss. Auf 35 Seiten entfaltet sich seine Analyse der Vielfalt von Unterhaltung und Propaganda in der Nazizeit.

In den Rezensionen der „Geschichte des deutschen Films“ wurde Karsten Wittes Beitrag fast durchgängig als besondere Autorenleistung gewürdigt. Ich zitiere Thomas Koebner: „Meisterliches Glanzstück unter den historischen Artikeln ist Karsten Wittes Darstellung ‚Film im Nationalsozialismus’. (…) Sein Blick auf den Film im Dritten Reich ist frei von üblichen Vorurteilen. Es versteht sich von selbst, dass es zu keiner Annäherung an den Nationalsozialismus kommt. Witte, so zeigt sich oft, ist keinerlei Mode verfallen und daher unter anderem imstande, sich gegen die neuerliche ästhetische Überschätzung von Veit Harlan zu wenden. Seine Wertungen überraschen oft, halten aber auch bei längerem Nachdenken stand. Seine Erläuterungen zum Melodram als einem Leitgenre, zur Technik der Überblendung, zur Vorstellung vom Jüdischen als einer Agentur des Sehens überzeugen durch tiefe Einsicht, sensibles Verständnis, Lebensklugheit und eine ebenso lapidare wie nuancierte Ausdrucksweise.“ (Medienwissenschaft 1994, Nr. 2). Karstens Text für die „Geschichte des deutschen Films“ war sein letztes Werk als freier Mitarbeiter der Kinemathek.

Wir hatten uns 1971 kennen gelernt, trafen uns damals in einem Café nahe der Frankfurter Universität, als er für den Suhrkamp-Verlag eine Anthologie zur „Theorie des Kinos“ vorbereitete. Das erste Gespräch war eine tour d’horizon durch die Filmliteratur, ein Thema, das uns in den folgenden Jahren nie verloren gegangen ist. Immer wieder überraschte er durch Hinweise auch auf entlegene Veröffentlichungen. Nachdem er 1979 seinen Lebensort nach Berlin verlagert hatte, wurde er für uns einer der angenehmsten, aufmerksamsten Gäste, mit unaufdringlicher Kennerschaft des Kulinarischen. Im Gespräch insistierte er auf Genauigkeit und Fairness.

Seine Interessengebiete waren ausgreifend und doch eng miteinander verbunden: Musik, Theater, Literatur, Kunst, Philosophie, Film. Er war Spezialist für das Kino in Italien (Visconti, Bertolucci, die Tavianis), Frankreich (Bresson, Melville, Godard), Japan (Ozu, Mizuguchi, Naruse, Oshima), Deutschland (Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Neuer deutscher Film), später auch Afrika. Er war interessiert an den Grenzlinien zwischen Literatur und Film (Cocteau, Duras, Pasolini), an Außenseitern (Straub/Huillet, Tarkowskij), an Schauspielern (Zarah Leander, Hans Moser). Nur am Rande hat ihn das Hollywood-Kino beschäftigt. Dessen Erzählweise verlangte ihm zu wenig intellektuelle Anstrengung ab.

Seine außerordentliche Fähigkeit, Strukturen, Details, Subtexte und innere Schwingungen eines Films wahrzunehmen, zu entziffern und zu beschreiben, gab seinen Texten ihren Reichtum an Gedanken, Assoziationen und Formulierungen. Er war präziser Analytiker und auch – wenn es darauf ankam – subtiler Poet. Die Anthologie ausgewählter Aufsätze und Kritiken („Im Kino. Texte vom Sehen & Hören“, Frankfurt am Main 1985) ist immer wieder lesenswert.

In der Zusammenarbeit, bei der Redaktion seiner Texte, erinnere ich mich an keinen Konflikt. Er reizte jede Terminverlängerung bis zur letzten Sekunde aus, schrieb seine Beiträge nach intensiver Vorbereitung in atemraubender Geschwindigkeit und war ein konzilianter Gesprächspartner, wenn es darum ging, komplizierte Sätze zu entflechten oder entlegenste Fremdworte zu entschlüsseln. Mit einem Essay von Karsten Witte hatte eine Publikation ihr Zentrum. Für die Deutsche Kinemathek war er über knapp zwei Jahrzehnte ein Autor, auf den sie stolz sein konnte. Zum Abschied hat sie ihm bei der Berlinale 1996 eine Vorführung des Films romanze in moll gewidmet. Das war ein deutscher Lieblingsfilm von Karsten Witte.

Stefanie Diekmann (Hg.): Schreiben über Film. Hommage an Karsten Witte. Kadmos Verlag 2010