Gero Gandert 80

Rede im Museum für Film und Fernsehen, Berlin

Lieber Gero, liebe Juana Gandert, liebe Tagungsteilnehmer und Geburtstagsgäste,

den 65. Geburtstag haben wir noch in der Pommernallee gefeiert, und jedem war damals klar, dass dieser Mann nicht in den Ruhestand geht, weil so etwas wie Ruhe ihm ganz fremd ist.

Als der 70. Geburtstag im Kalender stand, machte die Kinemathek Zwischenstation in der Heerstraße. Wir waren kurz vor dem Absprung in die Stadtmitte. Gefeiert wurde im „Lubitsch“ in der Bleibtreustraße. Gero konnte es damals gar nicht abwarten, sich seinen neuen Arbeitsplatz in der Potsdamer Straße einzurichten.

Die 75 haben wir oben in der Cafeteria der DFFB gefeiert. Meine kleine Laudatio hat dem Jubilar so gut gefallen, dass er mir anschließend mitgeteilt hat, er erwarte von mir auch eine Rede bei seiner Beerdigung. Ich habe ihn gebeten, damit möglichst lange zu warten. Das hat er mir versprochen.

Jetzt ist er 80 Jahre alt, sitzt unverdrossen im siebten Stock des Filmhauses, macht sich Gedanken über die Zukunft der Potsdamer Straße und wird heute mit einer Tagung geehrt.

Ich darf in diesem Zusammenhang über Gero Ganderts Lebensleistung als Spurensucher des Filmexils sprechen und soll mich kurz fassen, damit der Empfang nicht erst um Mitternacht beginnt. Ich spitze zu und ordne meine Gedanken zu sieben kurzen Kapiteln, die sich an Geros Leben orientieren.

1. Der Jahrgang 1929

Vor drei Monaten hat Florian Illies in der Zeit konstatiert, dass der Jahrgang 1929 das geistige und kulturelle Nachkriegsdeutschland auf einzigartige Weise geprägt hat. Die 29 Geborenen waren zehn Jahre alt, als der Krieg begann, und 15 oder 16, als er endete. Manche wurden noch Opfer, aber sie alle waren keine Täter. Sie erlebten 1945 einen Kulturschock, so etwas wie eine zweite Geburt, sie suchten nach neuen Kraftfeldern, um ihrer plötzlich gewachsenen Verantwortung gerecht zu werden. Illies nennt als Protagonisten des Jahrgangs Enzensberger, Habermas und Dahrendorf, Heiner Müller und Christa Wolf, Kempowski und Rühmkorf, Günter Gaus, Michael Ende, aber auch James Last, Nadja Tiller und Eduard Zimmermann. Ich füge Gero Gandert hinzu.

In der Nazizeit war er ein gläubiger Pimpf, 1945 gingen ihm die Augen auf. Die Nürnberger Prozesse, die er am Radio verfolgte, wurden für ihn zur Initialzündung, sich für Politik und Journalismus zu engagieren und den deutschen Faschismus zu verachten. Sein Interesse richtete sich auf das Medium Film. Es ist vielleicht eine spezielle Pointe, dass sein großes Buch – auch dies ein Lebenswerk – vom deutschen Film des Jahres 1929 handelt.

2. Der Filmjournalist

Nach dem Abitur drängte es Gero Gandert nicht zur Wissenschaft, sondern zum Journalismus. Nicht zum Abstrakten, sondern zum Konkreten. Oldenburg, Hamburg, München, Berlin. Lokalreporter, Filmkritiker, Geiselgasteig-Korrespondent, Hörfunkjournalist mit speziellem Interesse für den osteuropäischen und den ostdeutschen Film. Gero Gandert positionierte sich politisch links von der Mitte, wurde 1954 Mitglied der SPD, engagierte sich in der Initiative „Kampf dem Atomtod“, wurde Programmberater der „Filmbühne am Steinplatz“, organisierte dort die Westberliner Premiere von Konrad Wolfs Film Lissy, fuhr mehrfach zum Festival nach Karlovy Vary und wird am 15. August 1958 in der DDR von der Staatssicherheit verhaftet.

Die Anklage lautet auf „Spionage und schwere staatsgefährdende Hetze und Propaganda“. „Spionage“: das war sein interner Bericht über das Festival in Karlsbad für das Bonner Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, „schwere staatsgefährdende Hetze und Propaganda“: das waren seine kritischen Äußerungen über den Film der DDR.

Er hatte sich als freier Journalist gefühlt, wurde 18 Monate lang von der Stasi bespitzelt und schließlich vom Bezirksgericht Potsdam zu drei Jahren und acht Monaten Zuchthaus verurteilt. Es klingt absurd: Einer, der im Kalten Krieg vermitteln will, wird Opfer dieses Krieges. Vielleicht war er damals etwas zu naiv.

3. Gewalterfahrung

Knapp drei Jahre verbringt Gero Gandert in Haft in Brandenburg, die letzten Wochen in Einzelhaft im Stasi-Untersuchungsgefängnis in Potsdam. Traumatische Situationen, die wir aus manchen seiner Erzählungen kennen. Er stilisiert sie nicht zu Opfererfahrungen, weil er sich in seiner Haltung nicht hat brechen lassen. Er kann im Juni 1961 das Gefängnis mit der Gewissheit verlassen, seine Würde nicht verloren zu haben.

Ich will jetzt keine unmittelbare Verbindung zu den deutschen Emigranten herstellen, aber ich denke, dass Gero Gandert in der Haft für extreme existentielle Situationen sensibilisiert wurde. Das setzte ihn in den Stand, sich in die Erfahrungen anderer Menschen mit Brutalität, Angst und Verlusten noch stärker einfühlen zu können.

4. Die Entdeckung der Weimarer Republik

Wenn sich ein deutscher Filmjournalist in den sechziger Jahren vom aktuellen Film abwendet und für die eigene Geschichte und Filmgeschichte zu interessieren beginnt, gerät er zwangsläufig in den Sog der Weimarer Republik. Die knapp fünfzehn Jahre währende erste deutsche Demokratie zwischen Kaiserzeit und Nationalsozialismus war eine explosive Zeit der Kunst, der Literatur, des Films, der Publizistik. Gandert entdeckt in diesem Zusammenhang die phänomenale Qualität der Filmkritik jener Jahre, die praktisch in Vergessenheit geraten war, und beginnt die Arbeit an seinem Lebenswerk I, dem Handbuch der zeitgenössischen Kritik des Films der Weimarer Republik.

Seine Euphorie über die Texte von Ernst Blaß und Bernard von Brentano, Leo Hirsch und Hanns Horkheimer, Hans Sahl und Kurt Pinthus, Rudolf Arnheim und Siegfried Kracauer führte zur Obsession, diese Texte, die einstmals in Zeitungen und Zeitschriften publiziert worden waren, wieder zugänglich zu machen. Die Mühsal der folgenden Jahre und Jahrzehnte ist all denen in Erinnerung, die als Ratgeber das Projekt begleitet haben. Gandert nennt im späteren Vorwort 153 Namen, angeführt von Gerhard Schoenberner. Die Maximen des Weimar-Forschers Gandert – Vollständigkeit, Genauigkeit und Perfektion bis zum letzten Semikolon – haben ihn selbst und auch einige Wegbegleiter an Schmerzgrenzen gebracht. Aber nach dem Happyend 1993 gehörte das alles zum Mythos des Handbuchs.

Ganderts Handbuch ist für mich aus drei Gründen so etwas wie ein Schlüssel zu seiner Spurensuche nach dem Erbe der deutschen Filmemigranten.

1. weil die meisten Autoren, über deren Texte sich der Herausgeber begeistern konnte, selbst zu Emigranten wurden.

2. weil die Recherchen in den publizistischen Archiven den Forscher physisch und mental konditioniert haben für die Suche nach Emigranten-Archiven in Übersee.

Und 3., weil der jahrzehntelange Umgang mit Namen und Titeln des Films der Weimarer Republik  in den Gesprächen mit den Protagonisten jener Zeit, und das waren ja die Emigranten, für Gandert ein festes Fundament bedeutete.

Auch wenn er inzwischen beklagt, sein Namensgedächtnis sei brüchig geworden: er konnte mit Namen und Titeln jonglieren, die für andere längst in den Peripherien verschwunden waren. Und ich erinnere mich an das Glitzern in den Augen von Martha Eggerth, Dolly Haas oder Curt Siodmak, wenn Gandert ihnen bei der Suche nach Namen oder Titeln aus ihrer Berliner Zeit zu Hilfe kam und sie mit eigenen Assoziationen ergänzte. Profunde Kenntnisse wirken vertrauensbildend.

5. Die guten Manieren

Einige Charaktereigenschaften, die Gero Gandert zu seinen Erfolgen geführt haben, sind immer wieder zitiert worden: seine Beharrlichkeit, seine Geduld, seine Begeisterungsfähigkeit, seine menschliche Integrität. Zu nennen wären aber auch seine Umgangsformen. Gandert nutzt sie nicht bewusst, um als Jäger schneller zum Ziel zu kommen. Sie sind ihm – als einem Sohn aus sogenanntem „guten Hause“ – anerzogen worden und selbstverständlich. Er weiß, was ein Blumenstrauß für eine Gastgeberin bedeutet, und er kann preußische Höflichkeitsrituale auch im eher legeren New York oder L.A. zur Geltung bringen. Das öffnet Türen bei Witwen und sorgt für spezielle Anerkennung. Gekrönt wurde dies von den Baumkuchen, die zur Weihnachtszeit auf die Reise nach Amerika gingen und dort sehr geschätzt wurden. Ein guter Ruf spricht sich dann auch herum, besonders wenn es sich um eine Community handelt, die miteinander kommuniziert. So bekam der Name Gandert über die Jahrzehnte in Amerika seinen guten Klang

6. Amerika

Sein Einstieg in die Neue Welt dauerte fünf Wochen und fand 1978 statt. Koordiniert von der wunderbaren Kathinka Dittrich als Programmreferentin des GI in New York machte Gero Gandert mit dem mythischen Caligari-Manuskript im Gepäck, das er der Witwe von Werner Krauß entlockt hatte, eine Tournee durch amerikanische Universitäten, verliebte sich in die USA und legte die Grundsteine für das Exil-Archiv der Deutschen Kinemathek.

Jahr für Jahr fand er künftig Anlässe und beschaffte Geldmittel für seine zur Tradition gewordenen Amerikareisen. Sein Netzwerk wurde enger und kom­plexer, immer kam er schwer beladen von seinen Reisen zurück.

Er sprach von einem „Wettlauf gegen die Zeit“, denn der Tod riss zunehmend Lücken in die Emigranten-Generation, und den Nachkommen war nicht immer klar, welche Bedeutung die historischen Dokumente in den hinterlassenen Kartons der Eltern hatten. So wurde manches entsorgt, bevor Gero Gandert die Spur hatte aufnehmen können. Aber es überwiegen die Erfolge. Die größten sind mit den Namen Marlene Dietrich, Paul Kohner Fritz Lang, Erich Pommer und Wilhelm Dieterle verbunden. Ihre Archive kamen zurück in jenes Land, das sie rund fünfzig Jahre zuvor verlassen hatten. Es bedurfte einer guten Argumentation, um den Emigranten oder ihren Nachkommen diesen Weg plausibel zu machen. Gandert hat es als einen Akt der Aufklärung und Wiedergutmachung bezeichnet, die Dokumente des Exils in Berlin zu verwahren, zu erschließen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Filmexilanten sollten in Deutschland nicht in Vergessenheit geraten.

Gundolf Freyermuth hat in seinem Buch „Reise in die Verlorengegangenheit“ (1990) dem Spurensucher Gero Gandert ein schönes, berührendes Kapitel gewidmet, in dem auch eine emotionale Seite deutlich wird. Es endet mit einem Zitat des damals sechzigjährige Gero Gandert:

„Achtzig Prozent meiner Freunde sind heute zwischen 75 und 90 Jahre alt, Emigranten, die alle demnächst tot sein werden. Die Begegnung mit ihnen hat mein Leben verändert, hat ihm eine neue Dimension gegeben. Wenn mich jemand fragt, sage ich immer: Soviel Humanität, soviel Menschlichkeit, wie man bei den exilierten deutschen Juden antrifft, kann man in Deutschland mit der Laterne suchen.“

7. Die Kinemathek

Seit mehr als 45 Jahren ist Gero Gandert Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek. Anfangs auf der Basis von Werkverträgen, (das war die Berg-Zeit, an die sich Gero nicht gern erinnert), später als festangestellter Kustos (das war mit Beginn der Ära von Heinz Rathsack), seit 1994 mit einem kleinen Festgehalt, das man „Aufwandsentschädigung“ nennen könnte.

Zur Grundausstattung gehörten für ihn der Schreibtisch, das Telefon, die Schreibmaschine, relativ früh auch der Computer, Lamprechts Stummfilmkatalog, ein paar Koffer und Reisetaschen und das unabdingbare Ziel, diesem Haus einen filmhistorisch-politisch-moralischen Mehrwert zu verschaffen.

In der Ständigen Ausstellung des Filmmuseums gibt es einen Raum zum Filmexil, der ohne Gero Gandert nicht denkbar wäre. Im Schriftgutarchiv, umfasst die Liste der Nachlässe mit Exilbezug mehr als fünfzig Namen. Von B wie Bernhardt bis Z wie Zilzer. Dies nenne ich Gero Ganderts Lebenswerk Nummer 2. Und eines Tages wird es wohl auch den „Boulevard der Stars“ geben. Das wäre dann Ganderts Lebenswerk Nummer 3.

Als inzwischen frei schaffender Filmhistoriker gratuliere ich Dir, lieber Gero,  zu diesen Lebensleistungen, die Dir schon vor 15 Jahren das Bundesverdienstkreuz eingebracht haben. Und in diese Gratulation schließe ich Deine Frau Juana ein, die ich dafür bewundere, dass sie es mit einem so besessenen – um nicht zu sagen verrückten – Jäger und Sammler so lange aushält. Ich wünsche Dir, Ihr und uns noch eine lange, gemeinsame Zukunft.

Berlin, Museum für Film und Fernsehen, 15. Juni 2009 (unveröffentlicht)