Texte & Reden
20. Oktober 2008

Yasujiro Ozu: TOKYO MONOGATARI (1953)

Filmeinführung. Filmpodium Zürich

Ich möchte Sie mit ein paar Hinweisen auf das Besondere des Films Tokyo monogatari von Yasujiro Ozu aufmerksam machen.

Wie der Film beginnt: Die ersten Bilder: Ein Schiff tuckert auf dem Fluss, im Vordergrund eine steinerne Laterne. Kinder gehen zur Schule, im Vordergrund stehen zwei Flaschen am Bordstein. Ein Zug fährt durchs Bild, im Vordergrund drängen sich die Dächer der kleinen Stadt. Der Zug fährt in die Gegenrichtung, im Vordergrund hängt Wäsche auf der Leine. Blick auf einen Tempel und einen Friedhof. Fünf Bilder, eine Minute. Dann beginnt die Geschichte.

Die fünf Bilder sind Ozu-typisch, für die Anfänge seiner Filme, für ihre Strukturierung und für ihr Ende. Sie verweisen auf die Schauplätze und sind gleichzeitig Ozus Zeichen, dass es einen generelleren Lauf der Welt gibt, der sich fortsetzt, auch wenn die erzählte Geschichte zu Ende ist.

Wie der Film endet: Seine letzten vier Bilder: Ein Schiff tuckert auf dem Fluss. Im Vordergrund die Dächer der kleinen Stadt. Der alte Mann, eine Hauptfigur des Films, sitzt vereinsamt im Raum. Im Vordergrund steht eine Vase. Wieder das Schiff auf dem Fluss und die Dächer. Der Fluss in einer Totalen. Er wird weiter fließen.

Was der Film erzählt: Ein altes Ehepaar wohnt in einer kleinen Stadt im Süden Japans, wo die jüngste Tochter als Lehrerin arbeitet. Ein Sohn lebt in Osaka, ein weiterer Sohn ist im Krieg gefallen, zwei inzwischen erwachsene und verheiratete Kinder, Sohn und Tochter, wohnen im entfernten Tokio. Das alte Paar macht sich zum ersten Mal auf die Reise nach Tokio. Der Sohn ist dort Arzt, die Tochter betreibt einen Kosmetiksalon. Sie müssen hart arbeiten, für die angereisten Eltern gibt es da wenig Platz und wenig Zeit. Nur die Schwiegertochter Noriko, deren Mann im Krieg gefallen ist, nimmt sich des alten Paares an. Um ihnen etwas Gutes zu tun und sie zu beschäftigen, spendieren die Kinder den Eltern ein paar Tage in der Sommerfrische eines Seebades. Aber dort ist es so laut, dass die Alten nach einer schlaflosen Nacht in die Stadt zurückkehren. Doch da gibt es keinen Platz für sie. Die Mutter findet kurzfristig Unterkunft bei ihrer Schwiegertochter, der Vater versackt mit einem Kriegskameraden in einer Bar. Der Besuch geht schließlich zu Ende, das alte Paar fährt über Osaka nach Hause zurück. Die Mutter wird von den Anstrengungen der Reise todkrank. Die Kinder reisen aus Tokio an, um von ihr Abschied zu nehmen und an der Trauerfeier teilzunehmen. Dann machen sie sich schnell wieder aus dem Staub. Nur Noriko verweilt etwas länger. Sie diskutiert mit der jüngsten Schwägerin über den Egoismus der Menschen. Ihr Schwiegervater schenkt ihr zum Abschied eine Taschenuhr. Er bleibt allein zurück.

Der Film handelt von einer Reise, von einer Familie in drei Generationen, vom Alltag in Japan acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, von der hektischen Großstadt Tokio, von der trügerischen Schönheit des Seebades Atami, von der Aura eines alten Paares, vom Egoismus der Kinder und vom Lauf der Welt. Die Reise selbst, die Anstrengung einer achtstündigen Bahnfahrt, wird ausgespart.

Die Familie: das sind die beiden Alten, die von ihren Kindern enttäuscht werden, das sind die zwei inzwischen erwachsenen Kinder in Tokio, die einen Beruf und wenig Zeit haben, das sind die Enkelkinder, denen der Besuch der Großeltern nur lästig ist, weil sie ihnen ihr Zimmer überlassen müssen und wenig mit ihnen anfangen können. Das ist der Sohn, der in Osaka wohnt und es nicht schafft, seine Mutter noch einmal zu sehen, bevor sie stirbt. Das ist die jüngste Tochter, die noch Ideale hat und schockiert ist über die Egoismen ihrer Geschwister. Das ist der Sohn, der im Krieg geblieben ist und nur noch in einem Foto und in der Erinnerung präsent ist. Und das ist Noriko, die Schwiegertochter, die Schlüsselfigur des Films, die alle Sympathien auf sich zieht. Sie ist eine Witwe, sie hat in ihrem Lächeln, in ihrer Körpersprache, in ihrer zugeneigten Präsenz eine engelhafte Unschuld, die sie zuerst in der Mitte des Films, in einem Gespräch mit der Schwiegermutter, und dann, ganz am Schluss, in einem Dialog mit dem Schwiegervater, selbst in Frage stellt. Da bezeichnet sie sich als pragmatisch, egoistisch, rücksichtslos, auch wenn das alle anderen nicht merken würden. Und bricht in Tränen aus. Sie werden, wenn sie den Film noch nicht kennen, die Figuren schnell identifizieren können. Es geht um 13 Personen, die ins Geschehen involviert sind.

Und es geht um ein Geschehen, das stark von Ritualen geprägt ist: Kommen und gehen, essen, schlafen, arbeiten, telefonieren, streiten, sich etwas erzählen, auf etwas warten, sterben, trauern, Abschied nehmen, weiterleben.

Das Besondere an den Filmen von Yasujiro Ozu ist ihre Form, sind die Bilder. Die Kamera bleibt fast unbewegt. Sie ist in der Regel ungefähr 80 Zentimeter über dem Boden positioniert und erfasst aus dieser Perspektive Räume und Personen, wobei auf technische Hilfsmittel wie Blenden oder Schwenks gänzlich verzichtet wird. Bei Gesprächen bleibt die Kamera oft konventionell, nutzt den Schuss/Gegenschuss.

Wenn sie Reaktionen der Protagonisten einzufangen versucht, zeigt sie Männer und Frauen auch häufig nebeneinander, wie sie nach rechts oder links schauen, und sieht sie so von der Seite. Diese Seiten-Perspektive ist als Verlängerung der Ereignisachse zu sehen, die Ozus Filme allerdings nicht sichtbar macht. Vielleicht bedeutet dies aber auch eine Abkehr von westlichen Erzähl-Konventionen des Kinos.

Ozus Filme sind durch ihre langen, ruhigen Einstellungen charakterisiert, die es mit ihrem langsamen, gedehnten Rhythmus den Zuschauern ermöglichen, sich in aller Geduld auf die Familiengeschichten einzulassen.

Es gibt zwei formal auffallende Momente in Tokyo monogatari: In der 37. Minute erleben Sie eine Kamerafahrt bei einer Stadtbesichtigung von Tokio im Touristenbus. Es sind neun bewegte Einstellungen. Sie haben einen durchaus ironischen Gestus durch das Wackeln der Passagiere auf den Sitzen.

Zwei kurze Kamerafahrten finden auch in der 59. und 61. Minute statt. Einmal an einer offenen Mauer entlang zum alten Paar, das vor einem Stacheldraht sitzt und keine Bleibe hat. Kurz danach begleitet die Kamera die beiden Alten bei einem Gang an einem Zaun entlang. Das sind zwei extreme Momente der Verlassenheit in einer großen Stadt, die durch Kameraoperationen betont werden. Sie fallen einem sofort ins Auge. Sie sind die einzigen Fahrten in Tokyo monogatari.

Natürlich habe ich auch zwei Lieblingsszenen: die eine findet in der 70. Minute statt, wenn Noriko zunächst ihrer Schwiegermutter den Rücken massiert, die beiden Frauen voller Zuneigung über das Leben sprechen und sich dann zur Ruhe begeben. Die Nähe der beiden und die Intimität der Erinnerungen sind bewegend. Noch bewegender empfinde ich eine Szene am Schluss. Sie spielt in der Schule, es erklingt Kindergesang. Ein Korridor, an dessen Ende eine Reihe von Kindern vorbeigehen, ein Klassenzimmer, in dem die jüngste Tochter unterrichtet. Vom Fenster aus sieht sie den Zug vorbeifahren, der Noriko nach Tokio zurückbringt. Im Zug nimmt Noriko die Uhr aus der Tasche, die ihr gerade geschenkt wurde. Und schaut in die Ferne. Die Gleise sind dann leer.

Ozu versammelt in Tokyo monogatari viele seiner Lieblings-schauspieler: Chishu Ryu, fast so etwas wie ein Ozu-Star, spielt den alten Vater und tut das mit einer Sensibilität und Standfestigkeit, die man nicht vergisst. Sogar im Suff hat er noch Charme. Chieko Higashiyama ist die alte Mutter, die vor allem gut sein möchte, was ihr niemand dankt. Für die kleinen Tokioer Wohnungen ist sie zu dick. Für die Enkelkinder ist sie zu alt. Für das Seebad ist sie zu lärmempfindlich. Wir begleiten sie auf der letzten Reise ihres Lebens. Und schließlich Setsuko Hara, die Darstellerin der Noriko. Sie spielt die Bescheidenheit, die Güte, aber auch die Einsamkeit mit größter Intensität. Sie hat eine positive Ausstrahlung und gleichzeitig eine Traurigkeit in den Augen. Sie ist ein Phänomen und das bewegende Zentrum des Films. Setsuko Hara hat nach Ozus Tod – 1965 – nie wieder vor der Kamera gestanden. Man sagt, sie lebe noch immer in einem Dorf in Japans Bergen. Aber niemand hat Zugang zu ihr.

Zum Schluss ein Dank und eine Gratulation. Walter Vian gratuliere ich zu 50 Jahren Film-Bulletin, von denen ich 25 Jahre als Abonnent miterlebt habe, genau seit 1983, als das Film-Bulletin großformatig wurde. Es ist für mich immer ein schöner Tag, wenn ein neues Heft im Briefkasten liegt. Jetzt das 294.,  mit einem Text über Yasujiro Ozu. Bei Andreas Furler bedanke ich mich für die Einladung, hier heute gerade Ozus Tokio monogatari einführen zu dürfen, einen meiner Lieblingsfilme, den ich vor 45 Jahren zum ersten Mal gesehen habe.

Ich wünsche Ihnen einen schönen und interessanten Abend.