Texte & Reden
10. Februar 2008

Hätte ich das Kino!!

Statement bei einer Veranstaltung der Deutschen Filmakademie

Hätte ich das Kino !! – mit zwei expressiven Ausrufungszeichen – hieß das Pamphlet von Carlo Mierendorff, dessen Titel uns heute als Thema, als Schlagzeile, ja fast als Beschwörungsformel vorgegeben ist. Aber wir haben es doch, das Kino. Wir haben es noch. Wir müssen nur dafür sorgen, dass es nicht eines Tages sang- und klanglos verschwindet. Und wir müssen immer wieder etwas damit machen.

Als Mierendorff seinen expressionistisch gefühlten und formulierten Aufruf zu Papier brachte, war das Kino gerade mal 25 Jahre alt. Damals, 1920, als Mierendorffs Text erschien, gab es in Deutschland 3.422 Kinos. Und es wurden rund 500 neue deutsche Spielfilme in diesen Kinos gezeigt. Nicht alle waren abendfüllend. Und man sagte noch Films, wenn man mehrere meinte. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Erste Weltkrieg erst zwei Jahre vorbei war. Es begannen die berühmten zwanziger Jahre der Weimarer Republik. Unter den 500 Filmen von 1920 gibt es drei, die eigentlich jeder hier im Saal kennen müsste: das cabinet des dr. caligari von Robert Wiene, der golem, wie er in die welt kam von Carl Boese und Paul Wegener und anna boleyn von Ernst Lubitsch. Ich erwarte ja gar nicht, dass jemand – außer natürlich Hans-Christoph Blumenberg – das mädchen aus der ackerstrasse von Reinhold Schünzel gesehen hat. Oder den reigen von Richard Oswald mit Asta Nielsen und Conrad Veidt. Gut, alle hier kennen natürlich den nosferatu von Murnau, der 1921, also ein Jahr später entstand und zum Kanon gehört. Er wird immer wieder als Stummfilm mit Livemusik aufgeführt, nicht zu reden von der schönen DVD, die es inzwischen gibt. Aber auch bei den DVDs der alten Filme wünscht man sich doch: Hätten sie das Kino!!

Wenn wir uns hier heute mit einem Buchtitel aus dem Jahre 1920 in Schwung bringen lassen, muss auch gefragt werden: was lehrt uns denn die deutsche Filmgeschichte? Was wissen wir von ihr? Was ist an ihr so schön und so schrecklich? Wie verbinden wir den deutschen Film mit unserer politischen Geschichte, aus der wir doch alle viel lernen wollen? Und wenn es ständig neue Filme gibt, was machen wir mit den alten? Außer sie im Archiv zu verwahren und dort zu pflegen, soweit sie überhaupt erhalten sind.

Ich denke, zur Leidenschaft für den deutschen Film gehört auch eine Liebe zu seiner Geschichte, selbst wenn sie uns das nicht immer leicht macht. Es ist sicherlich einfacher, jede Woche in Berlin, in München oder in Hamburg über einen roten Teppich zur Premiere eines neuen deutschen Films zu gehen und anschließend locker darüber zu reden, warum es bei der Regie wieder nicht so ganz geklappt hat. Tolle Schauspieler, eindrucksvolle Kamera, gute Story, aber es fehlt – na, was wohl – die Tiefe und die Leidenschaft. Für den Deutschen Filmpreis wird das kaum reichen. Und schon gar nicht dafür, sich nach drei, fünf, zehn oder zwanzig Jahren noch an den Film zu erinnern.

Die Halbwertzeit von Filmen hat sich ohnehin dramatisch verringert. Und so haben wir als Filmhistoriker den wunderbaren, manchmal etwas anstrengenden und nur gelegentlich erfolgreichen Job, immer wieder an Filme zu erinnern und an Regisseure, Schauspielerinnen und Schauspieler, Drehbuchautoren, Kameraleute, Cutter, Szenografen, Komponisten und Produzenten, damit sie ein bisschen unsterblich werden. Denn für einen Film sind ja viele verantwortlich. Für die Bilder, für die Geschichten, für ihre Entstehung und für ihre Langzeitwirkung, also auch für den Nachruhm.

Die Erinnerungen an Filme mit der Gegenwart und auch mit der Zukunft zu verknüpfen, das wäre – hätte ich das Kino – meine Vision. Es gibt dafür so spröde Begriffe wie Repertoire, Medienkompetenz, filmhistorisches Bewusstsein, Kommunales Kino, Filmkanon, Erinnerungskultur. Aber eigentlich geht es doch vor allem um Neugier und Sehnsucht, Hören und Sehen, offene Augen und Ohren, um Kopf und Herz. Insofern geht es auch um Leidenschaft. Für das Alte und für das Neue. Und für alles, was zwischen gestern und heute die Verbindung schafft. Noch haben wir das Kino. Nichts wie hinein und lasst es dunkel werden. Damit sich unsere Augen öffnen. Denn die deutsche Filmgeschichte ist besser als ihr Ruf. Und die deutschen Filme sind es doch sowieso. Oder spätestens ab morgen, wenn alle Vorsätze von heute erfüllt werden.

Berlin, Deutsche Filmakademie / Akademie der Künste, 10. Februar 2008