Texte & Reden
29. März 2005

Reinhard Hauff

Text für ein Abschiedsbuch

Charlottenburg, Nähe Kurfürstendamm/Olivaer Platz. Ein Altbau aus der Jahrhundertwende zwischen Leibniz- und Giesebrechtstraße. Gegenüber steht das imposante Sophie-Charlotte-Gymnasium. Die Hausbesitzerin, Frau S., ist misstrauisch und tierfeindlich (sie wohnt weit entfernt, in Zehlendorf). Im Januar 1993 werden Reinhard Hauff und Christel Buschmann unsere Nachbarn. Fünfter Stock, ausgebaute Dachwohnung. Wir wohnen seit 1982 im vierten Stock. Beim Ausbau der Dachwohnung fiel uns die Decke buchstäblich auf den Kopf. Aber das ist vergessen. Also: Herzlich willkommen!

Reinhard leitet die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin. Ich leite die Stiftung Deutsche Kinemathek. Auch unsere Arbeitsplätze haben eine identische Adresse: Pommernallee 1, Deutschlandhaus, Theodor-Heuss-Platz. Gegen alle Widerstände schafft Reinhard dort – im vierten Stock – Raum für eine kleine Cafeteria. Quasi unter der Treppe. Reinhard braucht kommunikative Orte. 1996 ziehen seine Akademie und meine Kinemathek in eine Zwischenstation: Heerstraße 18-20, Bankhaus Masel. Der SFB hat uns aus der Pommernallee hinausgekündigt, die künftige Bleibe, das Filmhaus am Potsdamer Platz, ist noch nicht fertig. Eigentlich ein überflüssiger Umzug. Aber Reinhard kann in der Heerstraße die Kommunikationsflächen vervielfachen. Er sorgt dort für eine große Cafeteria mit Terrasse. Wie will er das am nächsten Standort toppen? Im Sommer 2000 ziehen Akademie und Kinemathek an den Potsdamer Platz. Ich bekomme mein Filmmuseum, Reinhard kriegt eine Cafeteria im neunten Stock des Filmhauses mit einem atemberaubenden Blick ins Forum des Sony-Centers. Sein einziges Problem: der Platz ist so attraktiv und prominent, dass der Zugang reglementiert werden muss. Und natürlich wird Reinhard verantwortlich gemacht für das gastronomische Niveau. Möglichst zu Aldi-Preisen. Das macht ihm zu schaffen.

Zurück in die Sybelstraße. Über uns wohnen Hauffs. Ich erinnere mich an viele Abendessen mit gastronomischem Niveau. Vorspeisen vom Italiener. Pasta aus Hauffs Küche. Salat. Dessert. Natürlich viel Wein und interessante Stammgäste: Angelika und Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta und ihr Sohn Felix Moeller (mit dem ich später einen Raum in meinem Filmmuseum konzipiere), Peter Schneider, Tilo Prückner und seine Frau Brigitte (die in dieser Zeit zur Ayurveda-Fraktion überläuft), Karin Graf und Joachim Sartorius, Hans-Georg Knopp und Mechthild Borries-Knopp. Vom Schauplatz dieser Abendessen trennt uns als Nachbarn nur ein Stockwerk. Das hat zu später Stunde seine Vorteile. Auch für Hauffs, wenn sie bei uns zu Gast sind.

In den ersten Jahren gibt es den Hütehund Rocco. Er stirbt Mitte der neunziger Jahre. Nach einer Phase der Trauer kommt Benny, auch er ein klassischer Hütehund. Benny ist temperamentvoll und den Menschen zugeneigt. Er hat seine Angewohnheiten. Auf dem oberen Treppenabsatz stehen bleiben, bis er zum Fahrstuhl gerufen wird. Sich im Fahrstuhl einen speziellen Platz suchen. Sich mit anderen Hunden auf der Straße anlegen. Nur an bestimmte Bäume pinkeln. Das Revier beherrschen wollen. Im Auto einen angestammten Platz einnehmen.

Wenn gelegentlich gegen halb acht Uhr morgens bei uns das Telefon klingelt, ist Reinhard am Apparat: wann ich zur Arbeit zu fahren gedenke, ob er und Benny mitfahren könnten. Klar doch. Benny bleibt im Auto still, wir können schwatzen. Natürlich mangelt es nie an Themen, und wir sind immer am Ziel, bevor alles besprochen werden kann. Unsere Kommunikation geschieht improvisiert. Wir haben mehrfach versucht, eine Art „jour fixe“ einzurichten. Das hat nicht funktioniert.

Manchmal kommen wir abends fast gleichzeitig nach Hause. Vor mir oder hinter mir: Reinhard auf der Suche nach einem Parkplatz. Er fährt das größere Auto, das ist für ihn nachteilig. Auch nach Einführung der Parkraumbewirtschaftung löst sich das Problem nicht. Meinen Trick – links vor der Schule parken, was eigentlich verboten ist – ahmt er nie nach. Wenn er einen Platz gefunden hat und ich noch suche, führen wir entspannte Gespräche durchs Autofenster. Nachbarschaftsrituale. Christels und Reinhards Autonummer ist eine Hommage an Benny: B-EN 805.

Unser wichtigster Nachbar, vierter Stock links, ist Doktor H., Homöopath, klein und dick, immer zu Scherzen aufgelegt. Wenn Reinhard daniederliegt, wenn es mir nicht gut geht, werden wir von Dr. H. ambulant behandelt, morgens und abends. Das funktioniert wunderbar bis zum Ende der neunziger Jahre, dann wird unser Doktor, inzwischen über die Achtzig, so krank, dass er uns nicht mehr behandeln kann. Im Frühjahr 2004 stirbt er.

Unsere anderen Nachbarn im Vorderhaus: das alte Ehepaar G. im Erdgeschoß rechts, das sich immer mal wieder um unsere Post kümmert; die prollige Familie E. mit Motorrad im Parterre links; der Steuerberater W. und die amerikanische Opernsängerin A. im ersten Stock; die Psychologin B., mit Sohn, gegenüber; der Opernintendant K. im zweiten Stock, der viel mit Reinhard kommu­niziert; das rotnasige Anwaltspaar K. und die komplizierte Familie O. aus Israel im dritten Stock. Man sieht sich, man grüßt sich. Im Hinterhaus gibt es eine große Fluktuation. Jeden Morgen legt der Zeitungsbote vor unsere Türen im vierten und im fünften Stück den Tagesspiegel und die Süddeutsche Zeitung. Rituale, die mit angenehmen Bequemlichkeiten verbunden sind.

Der Fahrstuhl stammt aus dem Jahre 1905. Manchmal bleibt er stecken, er ist sensibel. Anfangs gibt es eine verantwortliche Hausmeisterin, Frau L. Später muss ein Alarmknopf ausreichen. Christel geht grundsätzlich zu Fuß. Das bedeutet dann auch für Benny: keine Fahrstuhlnutzung. Als Reinhard im Februar 1998 für die Süddeutsche Zeitung interviewt wird, lässt er sich im Fahrstuhl fotografieren. Der Fahrstuhl hat Spiegel, er wirkt eng, es gibt wechselnde Inschriften. Er ist für uns ein Stück Berliner Architektur-geschichte. Der größte Kontrast ist der gläserne Fahrstuhl im Filmhaus am Potsdamer Platz.

Hauffs über uns. Wir hören manchmal ihre Schritte. Und Bennys Freude, wenn Herrchen und Frauchen nach Hause kommen. Auch seine hörbare Sehnsucht, wenn mal niemand da ist. Christel fragt immer wieder besorgt, ob uns das stört. Aber Geräusche – wenn sie lieb und vertraut sind – bedeuten Nähe, Nachbarschaft, Freundschaft.

Im Oktober 2004 verlassen wir die Sybelstraße. Christel und Reinhard fehlen uns.

Abschiedsbuch für Reinhard Hauff, Berlin März 2005 (nur in zwei Exemplaren publiziert).