Texte & Reden
01. April 2004

Ruth Leuwerik

Vorwort zu einem Buch im Henschel Verlag

     1.

An die fünfziger Jahre der deutschen Bundesrepublik wird im Blick auf Kunst und Kultur immer mit Herablassung erinnert: „Ära Adenauer“, „Stagnation“, „Anpassung“, „Repression“. Und als Symbol repressiver Innenarchitektur, für das man sich sofort entschuldigen möchte, steht ein Nierentisch im Raum. Gegen die Dynamik der Ökonomie – Schlag-wort „Wirtschaftswunder“ – hatte die Kultur wenig ins Feld zu führen. Literatur? Malerei? Film? Aufbruch? Innovation? Dominant ist vor allem der Vorwurf, Protagonisten des Dritten Reiches hätten unbeein-druckt ihre Arbeit fortgesetzt, es habe keine Distanzierung von der Nazizeit, kein wirkliches Umdenken gegeben. Den westdeutschen Film trafen die Verdikte am schlimmsten. 1962, im „Oberhausener Mani-fest“, heißt es sehr pathetisch: „Der Zusammenbruch des konventio-nellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geistes-haltung endlich den wirtschaftlichen Boden. (…) Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ Aber der „alte“ Film ist nicht tot, er erzählt uns heute viel von der Zeit, in der er populär und erfolgreich war. Und wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir sogar mehr, als man 1962 erkennen wollte.

     2.

Der amerikanische Film a women’s world von Jean Negulesco (1954) hieß in Deutschland die welt gehört der frau. Er spielte komödiantisch mit dem Geschlechterverhältnis in der Ökonomie und definierte Männer über ihre Ehefrauen. Gehörte damals in der Bundesrepublik die Welt – oder auch nur ein Teil von ihr – der Frau? Sie gehörte nach einem von deutschen Männern angezettelten und verlorenen Krieg längst wieder diesen Männern, die damit beschäftigt waren, den Nationalsozialismus zu verdrängen und auf den beseitigten Trümmern mit demokratischen Prämissen einen deutschen Staat zu restaurieren. Ins Kino gingen vor allem die Frauen. 1955 wurden in der Bundesrepublik 766 Millionen Kinobesucher/innen gezählt. Der Marktanteil des westdeutschen Films betrug 47 %. Solange die Kinowelt noch in Ordnung war, hatten Filmmagazine beträchtliche Auflagen. Die Leser der Film-Revue wählten die „Bambi“-Preisträger, die Leser der Star-Revue bestimmten das Ranking ihrer deutschen Lieblinge im „Starometer“, die Leser von Film und Frau wussten, wie es bei ihren Stars zu Hause aussieht und was dort im begehbaren Kleiderschrank hängt.

     3.

Für eine Kinosozialisation in der Bundesrepublik der Fünfziger – ich spreche hier aus eigener Erfahrung – spielten westdeutsche Schauspie-lerinnen eine große Rolle. Sie waren Projektionsfiguren für Sehnsüchte und Träume. Es gab unter den Darstellerinnen Mädchen (Romy Schneider, Sabine Sinjen), mädchenhafte Frauen (Gertrud Kückelmann, Liselotte Pulver), Frauen (Hildegard Knef, Maria Schell, Nadja Tiller), Mütter (Luise Ullrich, Magda Schneider, Paula Wessely). Auf die Mütter projizierte man relativ neutrale Erwartungen. Den Frauen zollte man Respekt. Für die Mädchen und die mädchenhaften Frauen konnte man intensiv schwärmen. In keine Kategorie passte Ruth Leuwerik. Sie wurde bewundert.

     4.

Diese Bewunderung galt einer Schauspielerin, die in jenen Jahren Tugenden verkörperte, die erst wieder zu erwerben waren: Selbstbewusstsein, Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit, Eigensinn, Herzenswärme. Ruth Leuwerik musste sich dafür gar nicht so sehr verkleiden oder verstellen. Haltung und Habitus ihrer Rollen schienen oft ganz nah bei ihr selbst oder dem, was wir für ihre Persönlichkeitsstruktur hielten. So wie sie stellten wir uns gern eine Ärztin, Rechtsanwältin, Studienrätin, Diplomatengattin, Opernsängerin, Königin, Kaiserin oder gar amerikanische Millionärstochter vor, die sie in den fünfziger Jahren alle spielte. Es war eine typisch Thomas Mannsche Untertreibung, als er Ruth Leuwerik „eine Frau von beträchtlicher Ansehnlichkeit“ nannte. Und Gunter Groll, der strenge Kritiker, ergänzte: „Sie ist überdies eine Darstellerin von beträchtlichem Reichtum der Mittel: beherrscht-lebendig, maßvoll-intensiv und auf das liebenswürdigste gescheit.“ Mehr Komplimente waren damals offensichtlich nicht zu haben.

     5.

Ruth Leuwerik trug in ihren Filmen klangvolle Vornamen der Zeit: Susanne, Nicole, Hanna, Vera, Tina – und auch einige eher traditio-nelle: Elisabeth, Franziska, Luise, Maria, Marianne. Sie beglaubigte ihre Rollen durch physische Präsenz, mentale Stärke, Bescheidenheit und eine gewisse Bodenständigkeit. 28 Filme in zwölf Jahren, von 1952 bis 1963. Die Komödien, Melodramen, Literaturadaptionen und Historienfilme handelten von Leben und Tod, Liebe und Ehe, Tugend und Laster, Geschichte und Gegenwart. Die Inhalte waren oft gewichtig, die Formen hielten dem nicht immer stand. Regisseure, mit denen Ruth Leuwerik mehr als zweimal zusammenarbeitete, waren Wolfgang Liebeneiner (sieben Filme), Helmut Käutner (vier) und Rudolf Jugert (drei). Filmregisseurinnen gab es – abgesehen von Helmut Käutners Ehefrau Erica Balqué – in Deutschland zu dieser Zeit nicht.

     6.

Wenn es denn eine Partnerin gab, mit der Ruth Leuwerik ein Stück der Welt des deutschen Kinos beherrschte, dann war das die Gloria-Chefin Ilse Kubaschewski, die als Filmverleiherin ziemlich genau wusste, was das Publikum wollte; zum Beispiel: „Keine unsympathischen Charaktere als Hauptfiguren, keine Rückblenden, auch beim tragischen, rührseligen Film ein Happyend, viele Bilder von der Heimat, sehr viel Musik und immer wat zum Lachen.“ Diese Maximen galten nicht unbedingt für die Leuwerik-Filme: O.W. Fischer, einer ihrer exponierten Partner, war manchmal unsympathisch, es gab hier und da eine Rückblende und kein Happyend, Heimatbilder und Musik standen nicht immer im Vordergrund und statt gelacht durfte auch geweint werden – wenn es, siehe oben, um Leben und Tod ging. Mit Ruth Leuwerik hat Ilse Kubaschewski viel Geld verdient und die damalige Weltsicht der Bundesdeutschen geprägt.

     7.

Der westdeutsche Film in den fünfziger Jahren fand natürlich nicht isoliert vom internationalen Film statt: in den Kinos liefen zeitgleich Filme aus den USA, Frankreich, Italien, Großbritannien, Skandina-vien, allerdings nur wenige aus Osteuropa und der DDR. Es war das erste Jahrzehnt des Kalten Krieges. Was die Schauspielerinnen betraf, so befand sich damals Ruth Leuwerik in einer unmittelbaren Kino-konkurrenz zum Beispiel mit Michèle Morgan und Alida Valli, Laureen Bacall, Doris Day und Grace Kelly, Deborah Kerr, Ulla Jacobsson und Harriet Andersson. Weil es eine gewisse Treue der Deutschen zu sich selbst gibt, schnitt Ruth Leuwerik in der Gunst des Publikums gut ab. Es existierte noch kein dominantes Fernsehen, und die Dramen im eigenen Land interessierten die Kinozuschauer mindestens so stark wie die Melos aus dem Rest der Welt.

     8.

Maria Schell drehte ab Mitte der Fünfziger auch in Amerika, Italien und Frankreich. Hildegard Knef hatte ihre ersten Hollywood-Erfahrungen schon 1949 gemacht und wurde später ein Musicalstar am Broadway. Romy Schneider entwickelte sich erst in Italien und Frankreich zu einer wirklichen Schauspielerin. Ruth Leuwerik blieb ihrem Heimatland treu. Als der junge (west)deutsche Film sich Mitte der Sechziger emanzipierte, endete ihre Kinokarriere. Sie war damals vierzig Jahre alt.

     9.

Eine Ausstellung und ein Buch zum 80. Geburtstag von Ruth Leuwerik sind für das Filmmuseum Berlin und die Deutsche Kinemathek nicht nur eine Verbeugung vor einer großen Schauspielerin. Sie stehen in einem größeren Zusammenhang unserer Arbeit. Sie verweisen auf Sammlungen und Ausstellungen zur deutschen und internationalen Filmgeschichte, die in den letzten Jahren zum Beispiel mit Namen wie Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Heinz Rühmann, Hardy Krüger und Horst Buchholz verbunden waren. Schauspielerinnen und Schauspieler sind noch immer die wichtigsten Protagonisten des Kinos. Sie gehören zu unserer Kulturgeschichte und zu unserem Leben. Das zeigen die Bilder in diesem Buch, das ist in den Texten zu spüren, in denen über die Schauspielerin Ruth Leuwerik nachgedacht wird, in ihren Filmen, die uns die fünfziger Jahre der Bundesrepublik erkennen lassen, und in der Ausstellung im Filmmuseum Berlin.

Peter Mänz/Nils Warnecke (Hg.): Die ideale Frau. Ruth Leuwerik und das Kino der fünfziger Jahre. Berlin: Henschel 2004.