Texte & Reden
01. Februar 2004

New Hollywood: die fünfte Generation

Vorwort zur Publikation der Retrospektive

     1.

In Hollywood, dem Wunderland in Kalifornien, ist über Jahrzehnte hart daran gearbeitet worden, den Menschen beim Träumen zu helfen. Investiert wurden Phantasie und Geld. Produziert wurden Filme, moving pictures. Die Fabrikation folgte tradierten Vorgaben: Genremustern, Identifikationsangeboten, Erwartungshaltungen des Publikums, Glücksversprechen. Hohe Priorität hatte deshalb das Happyend. In der Ökonomie gibt es aber – abgesehen von der Insolvenz – kein Ende, schon gar nicht ein glückliches. Ökonomie ist ein Prozess, es gibt Booms und Krisen, Höhen und Tiefen. „Old Hollywood“ geriet in den späten fünfziger Jahren in seine schwerste Krise: Das aufkommende Fernsehen nahm ihm das Publikum; der Supreme Court in Washington hatte die Studios zur Entflechtung ihrer Monopolstruktur verurteilt; Aufwand und Ertrag ließen sich immer weniger in der Verhältnismäßigkeit steuern. Die Steuermänner – teils alte Studiobosse, teils neue Manager – mussten mit viel Geld operieren und hatten es mit Professionals zu tun. Das waren neben den Schauspielerinnen und Schauspielern, den Drehbuchautoren und Kameraleuten vor allem die Regisseure.

     2.

Hollywoods erste Regiegeneration, geboren vor 1890 – Cruze, Griffith, DeMille, Dwan – war zu Beginn der sechziger Jahre im Ruhestand oder verstorben. Nur Chaplin drehte noch ein Spätwerk, aber er war ohnehin kein Hollywood-Regisseur. Die Protagonisten der zweiten Generation, geboren zwischen 1890 und 1905 – George Cukor, John Ford, Howard Hawks, Henry Hathaway, Alfred Hitchcock, William Wellman, William Wyler – standen noch in Lohn und Brot und drehten ihre letzten Filme. Die dritte Generation, geboren zwischen 1905 und 1920 – Robert Aldrich, Sam Fuller, Vincente Minnelli, Nicholas Ray, Don Siegel, John Sturges, Frank Tashlin, Robert Wise – spürte sehr unmittelbar die Auflösung des Studiosystems und reagierte frustriert oder verunsichert. Es kündigte sich der Übergang zur vierten Generation an, geboren zwischen 1920 und 1935: Stanley Donen, John Frankenheimer, Sidney Lumet, Mike Nichols, Sam Peckinpah, Arthur Penn, Sydney Pollack. Auch Robert Altman, Monte Hellman und Jerry Schatzberg gehören zu dieser Generation: Regisseure, die sich ihre professionellen Voraussetzungen vor allem beim Fernsehen verschafft hatten und nun zum Kino drängten. Sie trafen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre auf eine nur noch scheinbar festgefügte Studiostruktur. „In den sechziger Jahren blühte in Hollywood das Kino der herzlosen Mittelmäßigkeit, ein Kino, das weniger denn je mit den tatsächlichen Erfahrungen und Sensibilitäten der Zuschauer zu tun hatte.“ (Hans C. Blumenberg).

Und dann kam bereits, Ende der sechziger Jahre, die fünfte Generation, geboren nach 1935: junge, ungestüme Filmschulabsolventen oder Autodidakten, die sich für gesellschaftliche Realität interessierten, mit den traditionellen Genres spielten und einen neuen Ton ins amerika-nische Kino brachten. Zu ihnen gehörten Hal Ashby, Peter Bogdanovich, Francis Ford Coppola, Brian De Palma, Peter Fonda, William Friedkin, Dennis Hopper, Terrence Malick, George Lucas, John Milius, Martin Scorsese, Steven Spielberg. Sie machten das amerikanische Kino der späten sechziger und frühen siebziger Jahre spannend, sie waren „New Hollywood“.

     3.

Der schmerzhafte Übergang von „Old Hollywood“ zu „New Holly-wood“ wurde begleitet von politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in vielen Teilen der Welt. Aufruhr, Gewalt und Konfrontation überlagerten den Alltag in den USA und andernorts. Der Krieg in Vietnam spaltete die amerikanische Nation. Die Afroamerikaner forderten militant ihre Rechte ein. Studenten begehrten auf. In der Popkultur manifestierte sich ein kultureller Paradigmenwechsel. Zu den etablierten Medien entwickelte sich eine Gegenöffentlichkeit. Und auch in Europa  fand in der Filmprofession ein Generationswechsel statt, der in der amerikanischen Filmemacherszene aufmerksam zur Kenntnis genommen wurde. In New York hatte sich schon Ende der fünfziger Jahre, getragen von Dokumentaristen und Experimentalfilmern, ein Independent-Kino entwickelt, das mit Namen wie Kenneth Anger, John Cassavetes, Shirley Clarke, Jonas Mekas und Andy Warhol verbunden war. In einem Manifest zum unabhängigen amerikanischen Kino (30. September 1960) hieß es am Ende: „Wir wollen keine falschen, polierten, glatten Filme – wir möchten sie rauh, unpoliert, aber lebendig; wir wollen keine Filme in Rosa – wir wollen sie in der Farbe des Bluts.“

     4.

Diese Farbe gefiel offenbar auch den Rebellen des „New Hollywood“. Sie richteten ihre Kameras immer wieder auf Körper, Verletzungen, Wunden, auf Außenseiter, Kampfhähne und Neurotiker. Das Kino der fünften Generation, wendete sich damit thematisch und ästhetisch an ein Publikum, das nicht mehr familiär definiert war und eher aus Zwanzig- bis Vierzigjährigen bestand. Dieses Publikum wollte andere Filme sehen: „Filme, die eher von den Charakteren als von der Handlung lebten, sich nicht um traditionelle Erzählkonventionen scherten, das Gebot der technischen Makellosigkeit ignorierten, sprachliche Tabus brachen, allgemein anerkannte Verhaltensnormen sprengten und es wagten, auf ein Happyend zu verzichten.“ (Peter Biskind).

     5.

Die Kernzeit des „New Hollywood“-Kinos wird auf die Jahre 1967 bis 1976 datiert. Sie begann mit zwei Filmen der vierten Generation – bonnie and clyde von Arthur Penn und the graduate von Mike Nichols. Sie endete mit Blockbustern von Steven Spielberg und George Lucas: jaws (1975) und star wars (1977) – und einem Meisterwerk: taxi driver (1976) von Martin Scorsese. Wie bei jeder Phase gab es Vorläufer (the shooting von Monte Hellman, 1965) und Nachzügler (the deer hunter von Michael Cimino, 1978, apocalypse now von Francis Ford Coppola, 1976-79). Und es gab einen Höhepunkt in den Jahren 1971 und 1972 mit the last picture show von Peter Bogdanovich, the godfather von Francis Ford Coppola, the french connection von William Friedkin, the panic in needle park von Jerry Schatzberg, the king of marvin gardens von Bob Rafelson und all den kleinen, schmutzigen Filmen, die Teil des „New Hollywood“-Kinos waren.

     6.

33 Jahre später blicken wir auf New Hollywood zurück, mit einer Retrospektive der Berlinale und einer Publikation. Wir sehen von heute aus Amerika sensibler und kritischer, nehmen die politischen und kulturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte wahr und gewinnen für den neuen Blick auf „New Hollywood“ eine zusätzliche historische Dimension: die Nähe aus der Entfernung. Es ist ein sehr differenziertes und ambivalentes Bild, das im „New Hollywood“-Film von Amerika vermittelt wird. In ihm dominieren die dunklen Seiten, die Abgründe, die traumatischen Narben von Krieg und Gewalt. Dies geschieht in vielen variierten Genres, die uns aus dem amerikanischen Kino vertraut sind: Actionfilm und Film Noir, Western, Road Movie, Melodram, Psychothriller – und auch als ironische Komödie. Immer wieder erstaunt uns dabei die Radikalität, in der die Themen formuliert und zu Ende gedacht werden. Nie zuvor und danach ist Amerika realer und verstörender ins Kino gekommen – nie persönlicher und berührender.

     7.

Filme sind Zeugnisse ihrer Zeit. Wir sehen und lesen sie – retro-spektiv – mit dem Wissen von heute. Das macht die Begegnung mit „New Hollywood“ besonders spannend. Und es ist natürlich eine Kinolust ohnegleichen, den großen Schauspielerinnen und Schauspie-lern jener Jahre bei der Arbeit zuzuschauen, selbst wenn sie uns eine Menge trouble zumuten.

Vorwort zu: Hans Helmut Prinzler/Gabriele Jatho (Hg.): New Hollywood 1967-1976. Trouble in Wonderland. Berlin: Bertz + Fischer 2004. 230 S.