Texte & Reden
17. Juni 1999

100 Wörter des Jahrhunderts: Film

Beitrag für ein „Suhrkamp-Taschenbuch“

Zehn Umschreibungen

1. Assoziationen

Kino. Chaplin, Eisenstein & Hitchcock. Technicolor. Hollywood. Kamera & Projektor. Gone with the Wind. Greta Garbo & Marlene Dietrich. Oscar. MGM & Ufa. Casablanca. Agfa & Kodak. Walt Disney. Humphrey Bogart & James Dean. Steven Spielberg. Titanic. Show-down. Happy-End.

2. Ethymologie

Herkunft aus dem Englischen. Film = Häutchen. Material für fotografische und kinematografische Aufnahmen. Im Deutschen ist „Film“ ein umfassender Begriff für Technik, Ökonomie, Kunst und Unterhaltung. Die Franzosen bevorzugen das Wort „cinéma“ – was schon deshalb schöner ist, weil damit auch ein Ort benannt wird: das Kino. In Amerika geht es um „movies“, also bewegte Bilder.

3. Wirkung

„Die ideale Reaktion auf einen Film wäre nicht, daß die Zuschauer artikulieren können, was sie gerade gesehen haben, sondern daß sie sagen: ‚Das war wirklich schön.‘ So beschreibt man ein Gefühl: ein Wohlbefinden im Kopf und im ganzen Körper.“ (Robert Altman)

4. Technik

35 mm breit ist das international übliche Filmmaterial. Spezialformate sind 8 mm und Super-8, 16 mm und 70 mm. Der ursprünglich verwendete Nitratfilm hatte einen Nachteil, er entflammte leicht. So wurde er zum Sicherheitsrisiko. Acetat und Polyester sind inzwischen Träger der fotografischen Schicht. Die einheitliche Projektionsfrequenz seit Beginn des Tonfilms sind 24 Bilder in der Sekunde. Das Herz des Projektors ist das Malteserkreuz.

5.  Antagonismen

Gut & Böse. Leben & Tod. Liebe & Schmerz. Tag & Nacht. Mensch & Tier. Lachen & Weinen. Fiktion & Realität. Vergangenheit & Zukunft. Vor allem aber: Mann & Frau.

6.  Sozialisation

„Meine ersten zweihundert Filme habe ich im Stande der Heimlichkeit gesehen, im Schutz der Schule, die ich schwänzte, oder auch, indem ich abends die Abwesenheit meiner Eltern ausnutzte – wenn sie zurück-kamen, mußte ich wieder im Bett liegen und so tun, als ob ich schliefe. Ich bezahlte dieses große Vergnügen mit Bauchschmerzen, Magen-drücken, Angst im Kopf und Schuldgefühlen, die die von dem Schauspiel ausgelösten Gefühlsbewegungen natürlich nur noch steigerten.“ (François Trufffaut).

7.  Figuren

Abenteurer. Blondinen. Cowboys. Detektive. Engel. Feuerwehrleute. Gangster. Helden. Indianer. James Bond. Kinder. Liebespaare. Mütter. Nutten. Oedipusse. Psychopathen. Querulanten. Reisende. Soldaten. Tiere. Ungeheuer. Verbrecher. Witwen. Yuppies. Xanthippen. Zwerge. Das dramaturgische ABC – wer bekommt mit wem ein Problem? – ist Sache der Drehbuchautoren.

8.  Momente

Wenn Ellen Widmann ihre Tochter ruft: „Elsie“ – und wir wissen, daß sie tot ist. Wenn Gene Kelly viereinhalb Minuten im Regen singt und tanzt. Wenn Setsuko Hara als Kriegerwitwe selbstlos ihre Schwieger-mutter umsorgt. Wenn Robert Mitchum Marilyn Monroe über die Schulter wirft und aus der Bar trägt. Wenn John Wayne Natalie Wood, die er fünf Jahre lang gesucht hat, auf sein Pferd hebt. Wenn Tatjana Samoilowa die für ihren Mann bestimmten Lilien an fremde Menschen auf dem Bahnsteig verteilt. Wenn Dean Martin und Ricky Nelson singen: „My Pony, My Rifle and Me“. Wenn Alfredo im Arbeiterclub in Sheffield auf der Zither spielt. Wenn Alexandra Kluge mit ihrem Koffer am Frankfurter Kreuz steht und ein Tango erklingt. Wenn E.T. das Wort „Home“ begreift. Wenn Ahmad Ahmadpoor das Haus seines Freundes sucht. Das sind Momente, die ich nie vergessen werde. Filmgeschichte hinterläßt auch individuelle Spuren.

9.  Gattungen und Genres

Actionfilm. Animationsfilm. Biopic. Dokumentarfilm. Experimental-film. Fantasyfilm. Film noir. Gangsterfilm. Heimatfilm. Historienfilm. Horrorfilm. Indianerfilm. Katastrophenfilm. Kinderfilm. Komödie. Kriegsfilm. Kriminalfilm. Kulturfilm. Kurzfilm. Lehrfilm. Literatur-verfilmung. Märchenfilm. Melodram. Musical. Pornofilm. Psycho-drama. Revuefilm. Roadmovie. Slapstick. Science-fiction-Film. Spionagefilm. Thriller. Werbefilm. Western. Zirkusfilm. Grob geschätzt sind ein Drittel der Weltfilmproduktion Komödien. Oder zumindest: Filme zum Lachen.

10.  Verlust

Bei Ernst Lubitschs Beerdigung – die Anekdote gehört zum klassischen Zitatenschatz der Filmgeschichte – soll Billy Wilder zu seinem Kollegen William Wyler traurig gesagt haben: „Kein Lubitsch mehr“, und Wyler hat geantwortet: „Schlimmer – keine Lubitsch-Filme mehr.“

100 Wörter des Jahrhunderts. suhrkamp taschenbuch 2973, April 1999, Text nachgedruckt in der Süddeutschen Zeitung , 17. Juni 1999