Texte & Reden
15. Juni 1996

Sieben 90er Jahre Deutscher Film

Text für eine Publikation des Innenministeriums

Acht Fragen, sechs Antworten und eine Vision

Einmal angenommen, der Deutsche Filmpreis würde nur alle sieben Jahre verliehen, die Auszeichnungen von 1990 bis 1996 wären Nominierungen und nun ständen die Entscheidungen an. Was fände, mit zeitlichem Abstand und bei größerem Überblick, definitiv Gnade vor den Augen der Jury? Sie hätte es vor allem mit den Phänomenen Vergänglichkeit und Vergesslichkeit zu tun.

LETZTE AUSFAHRT BROOKLYN – wer denkt noch an diesen effekthascherischen, kalten, fremden Film von 1989? MALINA – wem ist die geheimnisvolle, schöne, eigenwillige Literaturverfilmung aus dem Jahre 1991 noch in Erinnerung? SCHTONK! – hat die Medienrealität diese Satire nicht längst übertroffen? Sind GEORG ELSER, DER TANGOSPIELER, VERRIEGELTE ZEIT nicht schon zu leisen, verblichenen Schatten geworden? Uns sind heute – 1996 – gerade noch KASPER HAUSER, wahrscheinlich der erfolgreiche BEWEGTE MANN und natürlich DER TOTMACHER präsent. Wenn jemand in drei oder vier Jahren dieses Buch zur Hand nimmt, wird er ganz andere, neue Titel im Kopf haben. Die Verfallsfrequenz von Kinofilmen, auch wenn sie im Fernsehen permanent verfügbar zu sein scheinen, beschleunigt sich. Gute Zeiten für Konsum – schlechte Zeiten für Erinnerung. Gib es noch Filme, die über sieben Jahre hinaus ihren kulturellen Wert behalten?

Ein Filmhistoriker könnte für diesen Zeitraum mindestens 40 bis 50 deutsche Spiel- und Dokumentarfilme nennen, denen er eine längerfristige Bedeutung zumisst. Die meisten sind in diesem Buch dokumentiert. Es waren gewiss keine fetten sieben Jahre für den deutschen Film – nicht im Marktanteil und nicht im künstlerischen Ertrag. Es gab wenig internationale Erfolge und viel Schelte zu Hause. Andererseits waren es für die Bundesrepublik die brisantesten Jahre seit ihrem Bestehen; mit der deutschen Einigung und dem komplizierten, noch nicht vollendeten Prozess des Zusammenwachsens der alten und neuen Länder. Diese Brisanz findet sich im Kinofilm der Zeit nicht wieder. Offenbar ist der Anspruch, im Kino etwas von der Realität spüren zu wollen und mit Fragen der Zeit konfrontiert zu werden, nicht mehr auf der Höhe dieser Zeit. Hat sich das Kino – mit oder ohne Hilfe des deutschen Films – endgültig von unserem wirklichen Leben verabschiedet?

Was ist Kino?

Vor allem ist Kino ein Ort der Imagination, der Erlebnisse, der Gefühle. Es spielt mit dem Leben, es erfindet, es phantasiert, es vergrößert Ängste und Glücksmomente durch immer neue Bilder und Töne. Bis man wieder draußen vor der Tür steht. „Der Eingang zum Kino zieht mit einer Gewalt die Schritte der Menschen an wie – wie die Brandwein-schänke“ (Hugo von Hofmannsthal, 1921). Bei soviel Versprechungen gibt es weniger denn je eine Verpflichtung zur Aufklärung oder Reflexion. Vor allem dann nicht, wenn – wie in vielen deutschen Filmen – zuviel gut gemeinte Meinungen angeboten werden. Das dauernde Reden und das Unvermögen, Botschaften in Geschichten und Bilder zu übersetzen, haben über Jahre die Ansprüche des Kinos ignoriert. Inzwischen leistet das Kino Widerstand.

Kino ist auch Architektur. Raum für die Erfüllung der Träume und Sehnsüchte. Seit Anbeginn hat es auf die Ansprüche des Publikums reagiert und sie durch atmosphärische Vorgaben provoziert. Den Ladenkinos der Frühzeit folgten die Theaterpaläste der zwanziger und dreißiger Jahre und als Alternative die „Puschenkinos“ der vierziger. Mit dem Nachkriegswohlstand kamen die sachlichen Neubauten der Fünfziger, und in den sechziger Jahren trennten sich die kleinen Kunstkinos von den großen Kommerzkinos. Die parzellierten sich in den siebziger Jahren in Schachtelkinos, und daneben etablierten sich die Programmkinos. In den Achtzigern wurde vor allem renoviert. Das Zauberwort der neunziger Jahre heißt „Multiplex“. Was danach kommt, wissen vielleicht die Kinogötter.

Wenn die „multiple complexes“ die Kinoorte der Gegenwart sind, haben wir es dort vor allem mit Komfort und Technik zu tun: große Leinwand, perfekter Sound, bequeme Sitze mit guter Sicht, große Räume, verschiedene, aber doch gleiche Häuser unter einem Dach, mit einer Kapazität von insgesamt drei- bis fünftausend Plätzen. Die Investitionen – es handelt sich meist um Neubauten – sind hoch und sollen sich schnell amortisieren. Der „Markt“ dominiert. Das schlägt auf die Filme zurück, die dort gesehen werden sollen. Da ist kein Raum für Subtiles, Reflexives, Poetisches, da sind Action, Erlebnis und Vergnügen angesagt. Auf den deutschen Film bezogen: Im Multiplex muss es kesseln. Und die Frage ist höchstens, warum ein Film wie DIE SIEGER, der das Format fürs Multiplex hatte, nicht kesseln konnte. Wir reden bei dieser Art Kino ja nicht von Kunst, sondern von Effekten, von Marketing und Promotion. Noch immer sind unsere Macher und Verleiher offenbar nicht professionell genug. Sie müssen sich von den Amerikanern und ihren deutschen Filialen zeigen lassen, wir man Marktanteile erkämpft, verteidigt und diversifiziert. Dafür gibt es keine sicheren Rezepte, aber Erfahrungen und Brancheninstinkte. Bei uns kesseln Komödien.

Was läuft?

Der öffentliche Diskurs über den deutschen Film handelt seit einiger Zeit nur noch von Komödien, „Beziehungskomödien“. Weil sie im Erfolgsquotient ganz oben liegen, gelten sie als der deutsche Film an sich. Das Niveau, auf dem man da im Kino lacht, muss uns allerdings nicht stolz machen. So wird den deutschen Komödie auch vorgehalten, dass die Franzosen und Amerikaner nicht über sie lachen können. Das ist leicht zu erklären. Diese Komödien sind kleinmütig standardisiert. Sie grenzen in den Stories, in den Konflikten und Konstellationen ihr Personal so ein, dass es nicht sonderlich interessant wirkt. Sie bringen ihre Figuren nie in wirkliche Krisen, sondern nur in peinliche Situationen. Sie beziehen ihren Witz aus anzüglichen Dialogen, aus simplen Verwechslungen, aus vorhersehbaren Verwirrungen. Sie kennen keine Fallhöhe außer der Stufe, über die jemand stolpert. Es geht nie um Sein oder Nichtsein, um wirkliche Abgründe, sondern um kleine Spiele, vor allem um Spiele mit vertauschten Geschlechterrollen. Das ist den Franzosen nicht elegant und den Amerikanern politisch nicht korrekt genug. Die Normierung des Komischen schlägt sich auch in der Ästhetik nieder: in flachen Bildern („Fernsehauflösung“), in einem Überangebot an Dialogen, in typisierten Besetzungen, im Mangel an Unverschämtheit und Sarkasmus. Der deutsche Film, das machen uns seine Komödie bis heute klar, hat den Verlust der jüdischen Künstler, die er 1933  vertrieben hat, nie wieder kompensieren können. Deswegen ist ihm gerade Billy Wilder bis in dessen hohes Alter unerreichbares Ziel und heimliche Projektionsfigur für das eigene schlechte Gewissen. – Aber die Kassen klingeln trotzdem.

Ein zweites Genre in ähnlicher Dimensionierung zeichnet sich im deutschen Film nicht ab, weil eine gezielte Produktion nicht stattfindet. Es entstehen vorwiegend Einzelstücke: Historienfilme (MARIES LIED, KASPAR HAUSER, LUDWIG 1881), Filme zur nationalsozialistischen Vergangenheit (HASENJAGD, LENI, MUTTERS COURAGE), Literaturverfilmungen (BRIGITTA, SCHLAFES BRUDER), psychologische Kammerspiele (KINDERSPIELE, DER TOTMACHER), Psychodramen (VERLORENE LANDSCHAFT, DIE TÖDLICHE MARIA, NEBEN DER ZEIT, STILLE NACHT), EXPERIMENTE STUDIEN (VERHÄNGNIS) und Filme, die sich einer Klassifizierung entziehen (AMIGOMIO, AUF WIEDERSEHEN AMERIKA, TRANSATLANTIS). Darunter sind achtbare, spannende, zum Teil hervorragende Filme – aber die meisten waren im Kino nicht wirklich erfolgreich. Einzig der Dokumentarfilm hat in der Anzahl und Qualität seiner Werke noch eine eigene Dimension, obwohl er im normalen Kinoprogramm fast gar nicht vorkommt.

Unsere Aufmerksamkeit und Förderung verdient er, weil er spontaner und direkter Befindlichkeiten und Krisen der Gesellschaft widerspiegeln kann. Damit ist freilich nicht di aktuelle Dokumentation gemeint, die kontinuierlich im Fernsehen stattfindet, sondern die künstlerische Auseinandersetzung mit einem konkreten Thema durch teilnehmende Bobachtung, authentische Mitteilung oder essayistische Reflexion. Dokumentarfilme sind oft Spurensuche, Erkundung eigener Geschichte und Echo auf Signale der Gegenwart. Kaum ein anderes Land in Europa verfügt zurzeit über so viele junge, begabte und alte, erfahrene Dokumentaristen wie die Bundesrepublik, de gerade in dieser Hinsicht aus der DDR neue, wichtige Impulse gegeben wurden. Die Debatte über die Gefährlichkeit eines Dokumentarfilms wie BERUF NEONAZI von Winfried Bonengel fand unter dem Niveau des Genres statt, das natürlich nicht dagegen geschützt ist, von schwachen Filmemachern in Misskredit gebracht zu werden. Über die neunziger Jahre der Bundesrepublik gibt es inzwischen mehr als ein Dutzend spannender, differenzierter Dokumentarfilme. Das Genre lebt.

Wo findet „Anderes Kino“ statt?

Zum Reichtum des Kinos gehört eine Vielfalt von Filmen. Es ist paradiesisch, wenn man an einem Abend in einer Stadt wirklich die freie Auswahl hat zwischen Unterhaltung und Kunst, zwischen Trivialität und Experiment, zwischen deutschen, europäischen und amerikanischem, vielleicht sogar asiatischem und afrikanischem Film, zwischen synchronisierter Fassung und Originalfassung, zwischen alten und neuen Filmen, zwischen Mainstream und „anderem Kino“. Noch gibt es in Berlin und Hamburg, in München und Köln, in Frankfurt und Leipzig, sogar in Bonn und Biberach eine Kinoland-schaft mit alternativen Angeboten, mit Programmkinos oder kommunalen Spielstellen. Aber in Böblingen, Eberswalde und Castrop-Rauxel sieht es schon schlechter aus. Immer dieselben Erfolgstitel von Nord bis Süd, von West bis Ost – keine Vielfalt, keine Kultur.

Fast unbemerkt ist aber eine neue Landschaft entstanden, man könnte sie schon kartografieren und hätte dann einen Wegweiser durch die deutsche Provinz – zu den kleinen Festivals, die es allerorten gibt. Zwar nur einmal im Jahr, aber als regionales Ereignis, finden an vierzig oder fünfzig Orten „Filmtage“ statt. In ihrem Zentrum stehen oft neue, „andere“ deutsche Filme, die wenig Aussicht auf einen Verleih oder einen Kinoerfolg haben. Sie werden, zum Teil mit öffentlichen Förderungsmitteln, ja noch immer produziert.

International zugeschnittene Festspiele mit Filmen auch des „anderen“ Kinos gibt es in Berlin (alle Sparten), Frankfurt am Main (Kinderfilm), Heidelberg-Mannheim (junger Film), Hof (deutscher und internationaler Film), Leipzig (Dokumentar- und Animationsfilm), Lübeck (nordischer Film), München (alle Sparten), Oberhausen (Kurzfilm), Osnabrück (Experimentalfilm und Video),. National und regional ausgerichtete Festivals gibt es in Augsburg („Tage des unabhängigen Films“), Bamberg („Kurzfilmtage“), Biberach/Riß („Filmfestspiele), Braunschweig („Filmfest“), Cottbus („Festival des jungen europäischen Films“), Dortmund („femme totale“), Dresden („Filmfest“), Duisburg („“Dokumentarfilmwoche“), Emden („Filmfest“), Essen („Kinderfilmfestival“), Frankfurt am Main („Filmschau“), Freiburg („Ökomedia“), Friedberg („Tage des religiösen Films“), Gera („Kinderfilmtage“), Hamburg („Filmfest“), Husum („Filmtage“), Kassel („Dokumentarfilm- & Videofest“), Köln („Feminale – Frauen-Film-Festival“), Ludwigsburg („“Filmfest“ mit Studentenfilmen), Lünen („Filmfestival“), Magdeburg („Kurzfilmtage“), Münster („Filmzwerge – Festival des unabhängigen Films“), Neubrandenburg („DokumentART“), Poel („Dokfilmwerkstatt“), Potsdam („Europäischer Salon für Liebhaber des jungen Films“ und Studentenfilmfestival), Saarbrücken („Filmfestival Max-Ophüls-Preis“), Schwerin („Filmfest“), Selb (Grenzlandfilmtage“), Stuttgart („“Trickfilmfestival“), Tübingen („Französische Filmtage“), Weiterstadt („Filmfest“), Wilhelmshaven („Maritime Filmtage“), Würzburg („Filmwochenende“). Sicherlich ist die Aufreihung zu ergänzen.

Auf diese Festivals und Filmtage kann sich das „andere Kino“ zunächst berufen. Sie werden sich noch vermehren und die Funktion einer jährlichen, kurzfristigen Präsentation von Filmkultur übernehmen. Auch hier dominieren jüngere Filmemacher.

Wo sind die Alten?

Rainer Werner Fassbinder ist tot. Konrad Wolf ist tot. Eine erste Bruchstelle für den westdeutschen Autoremfilm und den ostdeutschen Studiofilm war das Jahr 1982, waren die Abschiede von Fassbinder und Wolf. Die beiden – auch im Alter – sehr unterschiedlichen, sehr eigenwilligen, sehr dominanten Filmkünstler hinterließen nach ihrem Tod klaffende Lücken. Einen zweiten, noch folgenreicheren Bruch verursachte die politische Einigung 1989/90. Was sie für den ostdeutschen Film bedeutete, beschreibt Wolfgang Gersch an anderer Stelle in diesem Buch. Für das westdeutsche Kino brachte sie einen radikalen Generationswechsel. Fast alle Namen, die den Autorenfilm der siebziger und achtziger Jahre geprägt haben, sind aus dem Kino verschwunden. Wo ist der alte „Neue Deutsche Film“ geblieben? Alexander Kluge und Edgar Reitz haben sich auf unterschiedliche Weise mit dem Fernsehen verbunden: der eine als Organisator und Publizist hinter seinen unabhängigen Sendefenstern bei RTL und SAT1, der andere als großer, ausschweifender Erzähler der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts (HEIMAT, 11 Teile/13 Stunden, DIE ZWEITE HEIMAT, 13Teile/26 Stunden). Peter Lilienthal war mit kleineren Filmen wenig erfolgreich und meditierte als Direktor der Abteilung Film- und Medienkunst der Berliner Akademie der Künste in seinen Sommerakademien, Peter Fleischmann heuerte im Studio Babelsberg an, wo Volker Schlöndorff das Management übernahm und jahrelang keinen Film mehr realisierte. Reinhard Hauff wurde Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und Professor an der Hochschule der Künste. Helke Sander und Hark Bohm, Jutta Brückner, Jeanine Meerapfel und Adolf Winkelmann ließen sich ebenfalls zu Hochschulprofessoren machen; ihre Filmarbeit wurde zu einer Nebenbeschäftigung. Roland Klick und Niklaus Schilling, Bernhard Sinkel und Margarethe von Trotta haben sich mit ihren wenig erfolgreichen Filmen erst einmal aus dem Kino verabschiedet. Wolfgang Petersen, Uli Edel und Percy Adlon sind nach Kalifornien ausgewandert. Hans W. Geissendörfer produziert die LINDEN-STRASSE, Werner Schroeter arbeitet vor allem für das Theater, Werner Herzog inszeniert Opern und sucht vergebens Finanziers für neue Großprojekte, Robert van Ackeren ist verstummt, Ula Stöckl ist fast verstummt. Herbert Achternbusch und Rosa von Praunheim, Eckhart Schmidt und Rudolf Thome, Ulrike Ottinger und Helma Sanders-Brahms operieren unverdrossen mit ihren Low-budget-Produktionen in einem Niemandsland des Film-/Fernsehbetriebes. Kaum einer der Genannten (geboren zwischen 1932 und 1946) hat mit dem deutschen Kino der neunziger Jahre noch wirklich etwas zu tun. Sie sind – wie einige der ostdeutschen Kollegen – anderweitig beschäftigt oder im vorzeitigen Unruhestand. Die Ausnahmen heißen Joseph Vilsmaier und Wim Wenders. Vilsmaier war als Regisseur ein Spätentwickler und ist bis heute mehr Kameramann als Autorregisseur geblieben. Er hat Erfolg. Wenders kämpft seit dem hypertrophen Film und Flop BIS ANS ENDE DER WELT um seine Reputation; von der Kritik herunterge-mäkelt, ist ihm auch das Publikum nicht mehr treu; seine Fähigkeiten sind davon nicht tangiert.

Wer sind die Neuen?

Große Erfolge – wenn es denn welche gab – und entsprechende Preise errangen in den neunziger Jahren andere, jüngere Filmemacher. Der Generationswechsel vollzog sich ohne Proteste und Manifeste. Er geschah durch die Gesetze des Marktes.

Die neue Generation (geboren zwischen 1950 und 1966), das sind inzwischen schon mindestens zwanzig Namen: Peter Sehr (*1951), Dominik Graf (*11952), Wolfgang Becker und Lars Becker (*1954), Doris Dörrie (1955), Dany Levi und Jan Schütte (*1957), Rainer Kaufmann und Sönke Wortmann (*1959), Niko Brücher, Sherry Hormannn und Christoph Schlingensief (*1960), Detlev Buck und Maris Pfeiffer (*1962), Jens Becker und Peter Welz (*1963), Fred Kelemen und Rainer Matzutani (*1964), Romuald Karmakar, Hans-Christian Schmid und Tom Tykwer (*1965), Katja von Garnier und Gordian Maugg (*1966).

Was ist an den jungen Neuen anders als an der vorangegangenen Generation? Man sagt jetzt den Dreißig- bis Vierzigjährigen nach, dass sie mehr an das Publikum denken. Dass es ihnen nicht nur um die Darstellung ihrer eigenen Träume und Traumata geht, sondern um gut und effektvoll erzählte Geschichten. Wie jede Formel ist auch diese eine vereinfachende Generalisierung. Jede/jeder der Genannten hat schließlich ein individuelles Verhältnis zum Kino und zur eigenen Profession. Sie arbeiten sich weniger an der Schuld an den Grübeleien von Vätern und Großvätern ab. Sie definieren sich unbefangener als Nachgeborene, sie haben in der Regel eine der deutschen Filmschulen besucht, sie beherrschen ihr Handwerk. Ihr einziges Problem ist möglicherweise, dass ihren Sujets, ihren Geschichten, ihren Filmen die Unbedingtheit, die Dringlichkeit und die subjektive Phantasie fehlen. Über die Unterschiede ihrer Talente, über ihre Stärken und Schwächen reden wir besser in sieben Jahren.

Warum verschwinden die Kinobilder?

Man könnte den oben Genannten im übrigen leicht ein Dutzend Namen von Filmemachern hinzufügen, die sich nach ersten Kinoerfolgen dem Fernsehen zugewandt haben, weil sie mit ihren Frustrationen über die deutsche Filmförderung nicht zurechtgekommen sind.

Koproduktionen und Kooperationen des Kinofilms mit dem Fernsehen gibt es in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren. Auch die Erfolge reiner Fernsehproduktionen im Kino sind bekannt: MÄNNER (1985), ALLEIN UNTER FRAUEN (1992), STADTGESPRÄCH (1995). Neu ist die Produktion von TV-Movies, die im Kino nicht mehr spielbar sind. Sie werden nur noch elektronisch aufgezeichnet. Vor allem die privaten Fernsehanbieter haben da von amerikanischen und englischen Erfahrungen gelernt. Einige deutsche Filmtalente waren sofort dabei: Uwe Janson, Dominik Graf, Vivian Naefe. Sie drehen auf Beta SP, ihre Produktionen sind keineswegs billig, aber man tut den Bildern Gewalt an, wenn man sie mit einem Videobeamer auf eine Leinwand projiziert. Sie wirken kontrastarm, unscharf, farb-schwankend, sie kapitulieren vor den Anforderungen des Kinos.

Vom Verschwinden der Kinobilder ist aber auch bei deutschen 35mm-Filmen die Rede. Das ist nicht nur eine Folge unserer veränderten Sehgewohnheiten (schnelle Bildwechsel bei Videoclips und in der Werbung), sondern auch unserer Lebensweise, unserer Architektur und der Geschichten, die nun im Kino erzählt werden. Der Kameramann Martin Gressmann beschreibt es ganz konkret:

„Wenn der Hintergrund, vor dem der Schauspieler agiert, aus einer alpinaweiß gestrichenen Rauhfasertapete besteht, wie das in unseren Wohnungen seit den siebziger Jahren der Fall ist, dann kann die Kamera hinter dem Schauspieler auch nichts anderes als Weiß mit Pünktchen erkennen. Der atmosphärische Reiz ist gering. Wenn der Rauhputzmörtel der Häuser mit heller Dispersionsfarbe angestrichen wird, dann findet die Kamera wenig Halt bei den Mayonnaise-Senf-Altbaufassaden im Rücken der Schauspieler; dann sieht die Stadt aus wie eine Bausparkassenreklame. Um überhaupt noch etwas Atmosphäre zu retten, müssen dann die Nächte herhalten, mit diesen immer gleichen Berlin-bei-Nacht-, Frankfurt-bei-Nacht-Bildern mit den spiegelnden Regenpfützen in der Russen-Mafia-streift-umher-Dekoration. Denn die Produktionen geben bei uns kaum Geld für eine filmische Ausstattung aus, sie unterschätzen – im Gegensatz zu ihren amerikanischen Kollegen – die Bedeutung des Szenenbildners.

Wenn die Ausstattung nicht filmisch, sondern nur wohlstands-bearbeitet erscheint, verdurstet die Kamera. Sie liebt die Unregel-mäßigkeit, das von den Menschen Abgenutzte, das nicht gleich zu Erkennende, das Verborgene, das Dunkle neben dem Hellen. Und jetzt, von der Dekoration zurück zu den Schauspielern im Vordergrund: Die Kamera liebt den Hungrigen. Er ist fotogen, der Gesättigte ist langweilig. Deshalb sind die Geschichten mit Achtzehnjährigen, die Mercedes fahren, und Vierzigjährigen, die sich eine Baseballmütze verkehrt herum aufsetzen, ästhetisch so reizvoll wie eine Rauhfasertapete. Auch darum verschwinden die Kinobilder.“ (Süddeutsche Zeitung, 22.8.1996)

Was kommt? Eine Vision.

Die Verleihung des Deutschen Filmpreises in sieben Jahren- also im jahr 2003 – findet im Musicaltheater am Potsdamer Platz statt. Der Innenminister, inzwischen in Berlin amtierend und wohnhaft, hat Grund zur Freude: Roland Emmerich und Wolfgang Petersen sind – nach einer akuten Krise des amerikanischen Films – aus Hollywood zurückgekehrt und haben in Babelsberg zwei Welterfolge produziert, die den deutschen Film in die internationalen Schlagzeilen bringen. Die Kommission des Deutschen Filmpreises ist sich allerdings nicht sicher, ob hier die kulturelle Förderung noch greifen kann. Auch andere deutsche Filme machen Kasse. Aber wo ist die Kunst geblieben? Zum Ausgleich vergibt die Kommission ein Filmband in Silber an einen experimentellen Dokumentarfilm über den Zusammenbruch der Telekom. Vor dem Musicaltheater protestieren Veteranen des deutschen Films, weil sie zu der Veranstaltung nicht eingeladen worden sind. Der Innenminister verweist auf das große Kartenkontingent für die anderen Ministerien und die zahlreichen Abgeordneten des Bundestages. Die überforderte Moderatorin des Abends verwechselt prominente Politiker. Die TV-Übertragung, bei der internationale Filmstars nur virtuell anwesend sind, läuft aus dem Ruder. Eine prominente Berliner Produzentin übernimmt spontan die Regie und ernennt den Regierenden Bürgermeister zum Moderator. Der Abend wird doch noch ein Erfolg, der Filmreferent behält seinen Posten, die BMI-Förderung gilt für zwei weitere Jahre als gesichert. Der Marktanteil des deutschen Films beträgt in der Bundesrepublik 55,5 %. Die Amerikaner sind ausgebootet. Mit Emmerichs und Petersens nächsten Filmen werden die Anteile weiter steigen. Unseren Kulturbegriff müssen wir neu definieren.

In: Kulturelle Filmförderung des Bundes. Bonn: BMI 1996, S. 36-49