Texte & Reden
29. Mai 1996

Die Macht des Geldes – die Macht der Partei

Vortrag an der Universität Bonn

Aufbrüche im Film der Bundesrepublik und der DDR in den 60er Jahren

Für politische Macht, wenn sie Kunst- und Denkwidersprüche in ihrem Einflußbereich nicht zulassen will, gibt es zwei Reaktionsschwellen: Sie kann kritisches Denken und ästhetischen Widerstand als Prinzip bekämpfen oder sie kann sie dann unterbinden, wenn es um die Ver-öffentlichung geht. Herrschende Macht kann in verschiedenen Stufungen Zensur ausüben. Nun existieren Kunst, Philosophie und Wissenschaft in unserem Jahrhundert nicht für sich selbst, sie sind Teil der Gesellschaft, aus der sie erwachsen. Das Ausmaß der Veröffentlichung ist dabei unter den Künsten unterschiedlich. Das Musikstück, das Bild, das Gedicht finden je nach Reputation des Künstlers, nach Publikumsinteresse oder Modeströmung eine in der Regel kleinere Öffentlichkeit. Aber schon hier reagiert – wie wir aus der jüngeren Geschichte wissen – die politische Macht mit Kontrollansprüchen. Um wieviel größer muß ihr Interesse am Film sein, dem ich zwar ohne Vorbehalt einen Kunstanspruch zugestehe, der aber vor allem als Massen-medium gilt.

Aus inzwischen 100 Jahren Filmgeschichte wissen wir, daß der ökonomische Faktor des Mediums den der Kunst um ein Vielfaches übertrifft. Film ist von Anfang an vor allem ein Wirtschaftsgut gewesen und auch dies hat ihm das Interesse der jeweiligen politischen Macht gesichert. Der kollektive und technische Prozeß des Filmemachens hat es zudem immer erleichtert, Kontrolle (Zensur) auszuüben. Und schließlich spielte für das Staats- und Macht-interesse auch die dem Film unterstellte Wirkkraft eine Rolle. Über Jahrzehnte galt das Kino als der Ort, an dem Emotionen, Bewußtsein und Haltung der Zuschauer am intensivsten zu beein-flussen seien. Die Sozialpsychologie hat diese These zwar nie bis in den tiefsten Kern verifiziert, aber es gilt als unstrittig, daß der Film einen erheblichen Anteil an der Formulierung von Träumen, Leitbildern, Hoffnungen und Ängsten hatte und noch hat. Das daran orientierte Interesse der Macht ist an drei markanten Daten der deutschen Geschichte und Filmgeschichte zu verdeutlichen.

Im Juli 1917 – im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs – erregt sich Erich Ludendorf, Erster Gene-ralquartiermeister beim Chef des Generalstabs, angesichts der militärischen Lage über die Querelen der konkurrierenden militärischen und privaten Orginisationen bei der inneren und äußeren Propagandaarbeit. Ludendorf schreibt einen Brief an das Kriegsministerium, in dem er einen Zusammenschluß der deutschen Filmindustrie fordert, „um nach einheitlichen großen Gesichtspunkten eine planmäßige und nachdrückliche Beeinflussung der großen Massen im staatlichen Interesse zu erzielen“. Im Dezember wird die Universum Film AG gegründet. Der Krieg ist zwar auch mit dieser Ufa nicht mehr zu gewinnen, aber der Wille von Militär und Staat – verbunden mit dem Geld der großen Banken – führte zur Gründung des mächtigsten deutschen Filmkonzerns. Aus der Umklammerung von Geld und Politik hat er sich nie ganz befreien können. (Seine Geschichte ist nachzulesen in Klaus Kreimeiers Buch „Die Ufa-Story“, 1992).

Im März 1933 – sechs Wochen nach Hitlers Machtübernahme – wird das „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ gegründet. Zum Minister wird Joseph Goebbels berufen. Ihm obliegen „alle Aufgaben der geistigen Einwirkung auf die Nation, der Werbung für Staat, Kultur und Wirtschaft, der Unterrichtung der in- und ausländischen Öffentlichkeit über sie und der Verwaltung aller diesen Zwecken dienenden Einrichtungen.“ Der Film steht im Zentrum der Machtinteressen von Joseph Goebbels. Später – wenn er die Verstaatlichung der Ufa erfolg-reich beendet hat – wird man ihn den „Schirmherrn des deutschen Films“ nennen. Die Wider-standskräfte gegen die nationalsozialistische Filmpolitik sind relativ gering. Opfer dieser Politik werden jüdische, kommunistische und radikaldemokratische Künstler. Sie müssen emigrieren.

Im Mai 1946 – also genau vor 50 Jahren – wurde in der sowjetisch besetzten Zone die DEFA gegründet, ein Produktionsbetrieb mit politisch-moralischem Anspruch, der über 40 Jahre unter dem unmittelbaren Staats- und Parteieinfluß der DDR und der SED künstlerische, unter-haltende, aufklärende, der Gesellschaft verpflichtete Filme hergestellt hat. Bei der Übergabe der Lizenz teilt der sowjetische Oberst Tulpanow der DEFA wichtige Aufgaben zu: „Die größte von ihnen ist der Kampf für den demokratischen Aufbau Deutschlands, das Ringen um die Erziehung des deutschen Volkes, insbesondere der Jugend, im Sinne der echten Demokratie und Humanität. Der Film als Massenkunst muß eine scharfe und mächtige Waffe gegen die Reaktion und für die in die Tiefe wachsende Demokratie werden.“ Auch hier wird dem Film eine enorme Wirkkraft unterstellt. Die Macht der Partei wird sich in diesem Zusammenhang als sehr umfassend erweisen. Ich komme darauf noch zu sprechen.

Gewiß: Nachdem die westlichen Zonen von den Alliierten in die Unabhängigkeit des neues Staates Bundesrepublik Deutschland entlassen worden waren, verlief die Entwicklung der Filmwirtschaft hier insgesamt relativ unabhängig von politischer Einflußnahme. Es gab einzelne ärgerliche Zensurfälle (vor allem bei Filmen aus der DDR), es gab staatliche Förderungsaffären mit politischem Hintergrund (Bürgschaften für Wohlverhalten). Die Anpassung des west-deutschen Films an die Normen des Adenauer-Staates geschah als innerer Prozeß, er war eine Art Begleitmusik zu Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Das Kino erlebte in dieser Zeit einen letzten Boom allgemeiner Popularität, bevor sich der Medienwechsel zum Fernsehen vollzog.

Unmittelbar nach Kriegsende hatten die Alliierten dem westdeutschen Film eine ihn schwä-chende Roßkur verordnet: eine rigide Trennung der drei Sparten Produktion/Verleih/Kino. Sie wollten damit jede übermächtige Konzernbildung verhindern. Hinzu kam die geographische Zersplitterung – die Filmhersteller und -vertreiber saßen in München, Frankfurt und Wiesbaden, Göttingen, Hamburg, Berlin. Sie bildeten eine Branche, ohne miteinander verbunden zu sein. Sie pendelten in den Zuständigkeiten zwischen Wirtschaft und Kultur, zwischen Bund und Ländern. Sie hatten einen Gesamtverband, die Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft, der in sich uneins war. Die Hauptmacht – das heißt: das meiste Geld – lag bei den Verleihgesellschaften, die mit Garantiesummen quasi zu Auftragsproduzenten wurden. Gloria, Herzog, Constantin, Europa, Schorcht waren in diesem Zusammenhang die bekanntesten Namen.

Das Geschäft wurde von Leuten betrieben, die ihr Filmverständnis aus der Nazizeit bezogen. Ihr ästhetisches Bewußtsein war eher indifferent, ihr Interesse galt dem Film als Ware. Ein Leitsatz hieß: Gut ist, was gefällt. Und der Erfolg gab ihnen scheinbar recht. Über 800 Millionen Zuschauer gingen 1956 ins Kino, der Marktanteil des deutschen Films lag bei 47 %. Deutsche Filme – das waren damals noch Heimatfilme, aber vor allem Schlagerfilme, Lustspiele, Scheinproblemfilme.

In jedem Jahr leistete man sich eine Ausnahme:

1956 Die Halbstarken

1957 Nachts, wenn der Teufel kam

1958 Das Mädchen Rosemarie

1959 Die Brücke

1960 Kirmes

1961 gab es nicht einmal mehr eine Ausnahme. Aber in diesem Jahr gingen auch nur noch 500 Millionen Zuschauer ins Kino. Der Marktanteil des deutschen Films war auf 32 % gesunken. Angewachsen waren damals nicht nur die amerikanischen, sondern auch die französischen, englischen und italienischen Marktanteile.

 

Signifikant für den Film in der Bundesrepublik zu Beginn der 60er Jahre waren:

1. Der Stillstand. Während in anderen Ländern – in Frankreich, Großbritannien – künstlerische Aufbrüche des Films stattfanden und in den USA die Folgen der Fernsehdynamisierung zu beobachten waren, herrschte bei uns eine lähmende Ungewißheit, eine fatale Bewegungslosigkeit, eine Gottergebenheit, so etwas wie eine Todesahnung. Während der Film doch prinzipiell mit Leben und Bewegung zu tun hat.

2. Das Imitat.Die Unterhaltungsfilme – also fast alle Filme – sahen quasi gleich aus. Ihre Stories, ihre Bilder, ihre Ausstattungen, ihre Darsteller imitierten nur noch sich selbst. Sie setzten die Seelen- und Geschichtslosigkeit der 50er Jahre fort. Innovationen waren nicht zugelassen.

3. Die Verweigerung gegenüber der Realität. Es galt weiterhin die gebetsmühlenartig wieder-holte Regel, daß die Menschen im Kino keine Wirklichkeit sehen wollen – schon gar nicht ihre eigene. Da aber ein Medium sich nicht grundsätzlich der Realität entziehen kann, brachte die Abwesenheit realer Konflikte eine fatale Monotonie in die deutschen Filme. Sie wirkten desinteressiert an sich selbst.

Und 4. Das Machtkartell. Filmproduzenten und Verleiher verhielten sich wie ein heimliches Kartell. Sie stoppten 1960 die Gagen der Stars. Sie erreichten bei der Bundesregierung die Prämierung von Filmen mit Geld. Aber sie verhielten sich wie schlechte Unternehmer. Sie re-investierten ihre Gewinne nicht dort, wo es sinnvoll gewesen wäre. Sie planten nicht für die Zukunft. Sie sorgten nicht für Erneuerung und Nachwuchs. Sie schätzten das Fernsehen falsch ein. Sie hatten keine Sensiblität für technische und soziale Entwicklungen. Sie übten mit ihrem Geld in ihrer Branche Macht aus, während sie diese Macht und dann auch ihr Geld kontinuierlich verloren.

In dieser Situation meldete erstmals eine Gruppe eigene Ansprüche an. 26 junge Filmleute – sie kamen zumeist aus München, eine Frau war nicht dabei – also 26 junge Männer gaben am 28. Februar 1962 während der Kurzfilmtage in Oberhausen eine Erklärung ab:

„Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden. Dadurch hat der neue Film die Chance, lebendig zu werden. Deutsche Kurzfilme von jungen Autoren erhielten in den letzten Jahren eine große Zahl von Preisen auf internationalen Festivals und fanden Anerkennung der inter-nationalen Kritik. Diese Arbeiten und ihre Erfolge zeigen, daß die Zukunft des deutschen Films bei denen liegt, die bewiesen haben, daß sie eine neue Sprache des Films sprechen. Wie in anderen Ländern, so ist auch in Deutschland der Kurzfilm Schule und Experimentierfeld des Spielfilms geworden. Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den branchenüblichen Kon-ventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“

Der Text geht als „Oberhausener Manifest“ in die Geschichte ein. Zu den Unterzeichnern gehörten Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Haro Senft, Hans Rolf Strobel und Herbert Vesely.

Die Ansprüche der Oberhausener Gruppe – deren Gruppenzusammen-hang sich allerdings bald auflöste – wurden in der sogenannten „Altbranche“ zunächst nur belächelt. In den Kinos waren gerade zwei neue Wellen erfolgreich: der Karl May-Film und der Edgar Wallace-Film. Aber die jungen deutschen Filmemacher, an ihrer Spitze der geschickt argumentierende Alexander Kluge, setzten sich filmpolitisch gegen die bröckelnde Macht des Geldes durch. Sie erreichten die Gründung des „Kuratoriums junger deutscher Film“ (mit 5 Millionen DM Bundesmitteln), sie erhielten erste Prämien für Projekte, erste Bundesfilmpreise und füllten mit ihren Worten und ersten Werken des Vakuum westdeutscher Filmkultur. Früchte ihres Zorns ernteten sie 1965/ 66. Filme wie Nicht versöhnt, Es, Der junge Törless, Schonzeit für Füchse, Abschied von gestern, Der Brief hatten spürbare Signalwirkung. Erstmals gewannen junge westdeutsche Filmemacher bei den Festivals in Cannes, Berlin und Venedig Preise – wenn auch noch nicht die Hauptpreise.

Zum Schlüsselfilm dieser Zeit wurde Alexander Kluges Abschied von gestern: Der Film erzählt fragmentarisch und assoziativ einen Lebenslauf: Anita G., Jüdin, Jahrgang 37, in der DDR aufgewachsen, flieht 1957 aus Leipzig in den Westen, wird straffällig und auf Bewährung freigelassen, durchquert die Bundesrepublik, arbeitet als Vertreterin und Verkäuferin, will studieren, aber das Ost-Abitur wird nicht anerkannt, sie streunt, betrügt, wird von einem Ministerialrat schwanger und bringt ihr Kind im Knast zur Welt.

Der Film ist beherrscht von Kluges Lust am Collagieren. Die Lebensstationen und Episoden werden diskontinuierlich gezeigt: in Spielszenen, Interviews, Reportagen, Trickszenen, mit im-provisierten Dialogen, Literatur- und Musikzitaten, Kommentaren, Zwischentiteln. Der Schlußsatz heißt: „Jeder ist an allem schuld, aber wenn das jeder wüßte, hätten wir das Paradies auf Erden.“ Anita, dargestellt von Kluges Schwester Alexandra, ist heimatlos, immer wieder auf der Flucht, weil sie die Normen der Gesellschaft nicht verstehen will. Sie hat kein Verhältnis zum Geld, sie folgt einer subjektiven Logik, sie ist pragmatisch bis zur Naivität, sie hat Alpträume.

Im Personal und in der kinematographischen Bewegung ist Kluges Film eine Vermessung der Bundesrepublik mit eigenwilligen Schnitten durch Architektur, Justiz, Ökonomie, Literatur, deutsche Geschichte, Umwelt, Psychologie. Ich kenne keinen Film der 60er Jahre, der so raffiniert mit seinen Themen und seinem Material spielt.

Abschied von gestern war ein Panorama der westdeutschen Gegenwart mit dem Blick auf deutsche Geschichte.

Nicht versöhnt von Jean-Marie Straub, eine Verfilmung des Romans „Billard im halbzehn“ von Heinrich Böll, war so etwas wie eine Parabel zur deutschen Geschichte. In Rückblenden und Gesprächen wird das Ver-häntnis einer Kölner Architektenfamilie über drei Generationen zu Staat und Kirche erzählt. Die eigenwillige Ästhetik des Films machte ihn zunächst zu einem Objekt des Spotts.

Es von Ulrich Schamoni galt als neuartiges Psychodrama. Die Beziehung eines Grundstücksmaklers und einer Architekturzeichnerin scheitert an der unterschiedlichen Auffassung über Kinder. Ein Zeitbild aus West-Berlin.

Der junge Törless von Volker Schlöndorff, nach einer Erzählung von Robert Musil, schilderte eine Internatsaffäre am Ende des 19. Jahrhunderts. Aber als Reflexion über Machtverhältnisse, Angst, Sadismus und die Haltung des Mitwissers wurde ein sehr bedrängendes deutsches Thema behandelt.

Der Brief von Vlado Kristl war eine Groteske. Jemand trägt einen Brief, der das eigene Todesurteil enthält, durch eine große Stadt – München – und erlebt absurde Dinge, die absurd gefilmt sind. Viele konnten nicht mehr den Unterschied zwischen Tiefsinn und Blödsinn ausmachen. Kristls Film galt als reine Provokation.

Signifikant für den jungen deutschen Film Mitte der 60er Jahre waren:

1. Die Bewegung. Gegen den herrschenden Stillstand opponierten die Jungen mit innovativen Ideen, Themen und Produktionsformen. Sie nutzten neue Filmtechniken, verließen die Studios, gingen auf die Straße.

2. Die Originalität. Die jungen Filmemacher orientierten sich nicht an Vorbildern, schon gar nicht an deutschen. Sie schauten nach Frankreich, England, Italien oder erfanden ihre Ausdrucksformen für sich selbst, autodidaktisch. Eine Filmschule gab es in der Bundesrepublik noch nicht, die erste wurde 1966 in Berlin gegründet. Für Kluge, Jean-Marie Straub oder Vlado Kristl gab es keine Lehrer, keine Vorbilder in Deutschland.

3. Die Realität. Bei allen thematischen und ästhetischen Unterschieden war den neuen deutschen Filmen das Interesse an gesellschaftlicher Wirklichkeit gemeinsam. Sie erzählten Geschichten und Konflikte, die an Erfahrungen der Zuschauer anknüpften.

4. Die Kultur. Die filmpolitischen und ästhetischen Vorstellungen der neuen Generation wurden öffentlich diskutiert, der Film kehrte aus der Isolation in den kulturellen Kontext von Literatur, Theater und Kunst zurück. Er wurde – in einem veränderten Klima in der Bundesrepublik – auch Teil der politischen Kultur.

Ohne Geld, also ohne Produktionsmittel, war das natürlich nicht zu haben. Die Macht des Geldes bekamen die neuen, die jungen westdeutschen Filmemacher insofern zu spüren, als weder die großen Verleihgesellschaften noch die etablierten Produzenten ihnen Vertrauen schenkten. Zu ihrem wichtigsten Verleihpartner wurde ein Newcomer, der Atlas-Filmverleih, der mit ausländischen Filmen – vor allem mit Ingmar Bergmans Das Schweigen – etwas Kapital angesammelt hatte. Nur einer der älteren Produzenten, Franz Seitz, war neugierig auf den Nachwuchs und half finanziell zunächst bei Schlöndorff, dann auch bei Straub u.a., womit er sich längerfristig zwar nicht das große Geld, aber einen guten Ruf einhandelte.

Die jungen Regisseure taten im Übrigen etwas Naheliegendes, sie gründeten eigene Produktionsfirmen, suchten die Partnerschaft von Finanziers mit kleinerem Kapital und unterliefen damit das ohnehin bröckelnde Geldkartell. Mit dem ersten Filmförderungsgesetz von 1968, mit neuen Namen wie Werner Herzog, Johannes Schaaf, Edgar Reitz, Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders, Rosa von Praunheim, Werner Schroeter, Helke Sander und Helma Sanders-Brahms, mit kleinen Budgets, alternativen Verleih- und Kinoformen, mit Preisen auf Festivals kam der Film in eine kulturelle Gewinnzone. Die ökonomischen Verluste wurden erst später, in den 80er Jahren deutlich.

Ein zweiter Aufbruch.

Wir bleiben in den 60er Jahren und wenden den Blick in den anderen Teil Deutschlands, der sich zu dieser Zeit schon konsequent als anderen Staat betrachtete. Es ist überraschend – und die zeitliche Koinzidenz wurde erst sehr viel später registriert – , daß es auch in der DDR Mitte der 60er Jahre eine Auseinandersetzung der Filmemacher mit der Macht gab. Hier handelte es sich um die politische Macht und die Kraftprobe nahm ein anderes Ende. Zur Vorgeschichte gehören einige Fakten der Politik und Ökonomie, die ich als Stichworte benennen muß.

1. Die Kritik der Sowjetunion am Stalinismus auf dem 20. Parteitag der KPdSU (1956). Damit begann dort eine Phase der Liberalisierung in der Kunst, die sogenannte „Tauwetterperiode“, während sich gleichzeitig die ideologischen Fronten im Weltzusammenhang verschärften.

2. Der Bau der Mauer (1961). Mit den sogenannten „Grenzsicherungs-anlagen gegen den westdeutschen Imperialismus“ schuf sich die DDR eine innere Ruhezone, die bei den Schriftstellern und Künstlern – auch den Filmleuten – zu einer seltsam euphorischen Aufbruchsstimmung führte. Der Preis der Mauer schien damals vielen nicht zu hoch.

3. Die Einführung des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (1962). Gegen die akute Wirtschaftskrise der DDR wurde ein neues System entwickelt, das mit mehr individueller Flexibilität verbunden war und der Verlagerung von Verantwortung auf die einzelnen Betriebe.

4. Der Rechtspflegeerlaß (1963). Er bedeutete einen kleinen Schritt zur Demokratisierung der Justiz und stärkte die Rechte des Einzelnen durch Bildung von Konflikt- und Schieds-kommissionen.

5. Das Jugendkommuniqué (1963). Nach langer Diskussion wurden die Regularien für das Verhalten der Jugend in der Öffentlichkeit gelockert. Ihr bisher stark genormter Umgang mit Musik, mit Mode, mit Sexualität wurde liberalisiert.

Vor dem Hintergrund dieser und verschiedener anderer Tendenzen und Ereignisse wurden 1964/65 im DEFA-Studio verstärkt Filmstoffe zur DDR-Gegenwart entwickelt. Das Kontrollsystem war auch hier gelockert worden. Die Leitung des Studios hatte mehr Entscheidungs-kompetenz, die künstlerischen Arbeitsgruppen bekamen eine gewisse Selbstverantwortung, die neuen Impulse wurden vom Ministerium für Kultur und dessen Hauptverwaltung Film mitgetragen.

Es muß im Zusammenhang mit unserem Generalthema allerdings gesagt werden, daß unter den Filmprojekten, die nun entstanden, kein einziges einen generellen Widerstand gegen den Staat und die herrschende Partei formulierte. Es ging um die Darstellung offener oder latenter Konflikte im DDR-Sozialismus. Sie sollten deutlich gemacht werden, um sie zu diskutieren, zu bewältigen, zu lösen.

Neu war daran, daß die Lösung nicht von vornherein in den Filmen selbst enthalten war, daß sie offen oder fragend endeten, daß sie von ihren Zuschauern Mitarbeit und Mitdenken erwarteten. Zu den Dogmen des sozialistischen Realismus hatte bis dahin ein rigider Schematismus in der Dramaturgie, in der Charakterisierung des positiven Helden und seiner Widersacher, in der Entwicklung und Auflösung der Konflikte gehört. Gegen diese Stagnation und die damit verbundene Denkfaulheit artikulierte sich nun das, was ich einen immanenten Widerstand nennen möchte.

Auffallend ist, daß es dabei – bis auf einen Fall, nämlich Jahrgang 45 von Jürgen Böttcher – ausschließlich um inhaltliche, nicht um ästhetische Fragen geht. In ihrer Form sind die DEFA-Filme des Jahres 65 (anders als die der westdeutschen Kollegen) nicht wirklich experimentell oder neu. Sie bleiben in dieser Hinsicht auch hinter den zur selben Zeit in Polen, Ungarn und der CSSR gedrehten Filmen zurück. Dringlich waren den Autoren und Regisseuren ihre Themen, und damit war die Hoffnung verbunden, die Lebensqualität in der DDR zu verbessern.

So entstand ein Dutzend Filme, von denen einige zumindest dem Titel nach auch bei uns bekannt sind, zum Beispiel: Das Kaninchen bin ich, Denk bloß nicht, ich heule DER Frühling braucht Zeit, Wenn du groß bist, lieber Adam berlin um die Ecke, Karla, Jahrgang 45.

Ich gehe auf Das Kaninchen bin ich – wie zuvor auf Abschied von gestern – als Prototyp etwas näher ein. Der Film entstand nach einem Roman von Manfred Bieler. Der Regisseur Kurt Maetzig galt – neben Konrad Wolf – als reputiertester Filmmann in der DDR, er hatte in den 50er Jahren die beiden Thälmann-Filme und den LPG-Film Schlösser und Katen gedreht. Diese Reputation half, das Projekt durch die verschiedenen Genehmigungsstationen zu schleusen, obwohl es an verschiedenen Stationen (bei Parteidoktrinären) Vorbehalte gegen den Stoff gab. Bielers Roman hatte bisher auch keine Druckgenehmigung erhalten und wurde später nur im Westen veröffentlicht.

Roman und Film erzählen die Geschichte von Maria Morzeck, Jahrgang 1943, also 19 Jahre alt, die als Kellnerin in Ost-Berlin arbeitet. Sie hätte gern studiert, wurde aber nicht zugelassen, weil ihr Bruder wegen „staatsgefährdender Hetze“ im Gefängnis sitzt. Maria verliebt sich ausgerechnet in den Richter, der ihren Bruder verurteilt hat. Sie muß dann erkennen, daß der Mann ein übler Karrierist ist. Als ihr Bruder aus dem Gefängnis entlassen wird und von der Liebschaft hört, schlägt er seine Schwester brutal zusammen. Sie löst sich aus allen Beziehungen und macht sich Hoffnung auf einen Studienplatz.

Obwohl die Dubiosität vieler Justizbeamter in der DDR bekannt war, galt es natürlich als politisch riskant, einen Richter, also eine Staatsperson, in den Mittelpunkt zu stellen, die sich als mieser Opportunist erweist. Keine andere Figur sorgt im Film für die notwendige Balance. Es gibt zwar durch die emotional sehr glaubwürdige Hauptperson Maria, aus deren Sicht der Film erzählt wird, ein starkes Gegengewicht, aber in der Summe sind sie und ihr Bruder Opfer politischer Justiz. Als Kommentar zum neuen Rechtspflegeerlaß ist Maetzigs Film eine Kritik nicht nur an der Vergangenheit.

Der innere Monolog, die subjektive Erzählperspektive, einige dokumentarische Momente und die junge Frau als handelnde Figur, als Opfer und als emotionales Zentrum des Films – das erinnert im übrigen an Abschied von gestern. Allerdings ist Kluges Film ungleich komplexer in seiner Gestaltung und insofern ästhetisch ganz auf der Höhe seiner Zeit, während Maetzig noch zu konventionellen, theaterhaften Lösungen neigt.

Das Kaninchen bin ich stellte den Mißbrauch von Macht im Justizapparat der DDR zur Diskussion.

Karla, ein Film von Herrmann Zschoche mit Jutta Hoffmann, war ein Kommentar zur Staats-pädagogik in der DDR. Erzählt wurde die Geschichte einer engagierten und meinungsfreudigen Lehrerin in der Provinz, die in Konflikte mit der Schulbürokratie gerät und daran scheitert.

Denk bloß nicht, ich heule von Frank Vogel behandelte Jugendprobleme. Die Geschichte eines Oberschülers, der gegen die herrschende Heuchelei opponiert und die Orientierung verliert. Er verläßt Schule und Elternhaus. Ein junges Mädchen leistet Hilfe.

In dem Film Der Frühling braucht Zeit von Günther Stahnke ging es um Betriebsprobleme. Dargestellt wird der Konflikt zwischen einem karrieresüchtigen, staatsnahen Direktor und einem kompetenten, aber parteilosen Ingenieur nach einem Betriebsunfall. Nur durch Zufall kommt der Ingenieur zu seinem Recht.

Diese Filme kamen nur kurzfristig oder gar nicht ins Kino – oder wurden wie einige andere vor ihrer Fertigstellung abgebrochen – weil sie im Dezember 1965 vor ein Tribunal gerieten, das die kulturpolitische Liberalisierungsphase abrupt beendete. Die berühmt-berüchtigte 11. Tagung des Zentralkomitees der SED rechnete in einer bis dahin unbekannten Schärfe mit Schriftstellern und Filmleuten ab, denen eine Schädigung der DDR vorgeworfen wurde. Subjektivismus, Nihilismus, feindliche Ideologie und ein unzureichend gefestigtes marxistisch-leninistisches Weltbild waren die schlagworthaften Vorwürfe gegenüber den Künstlern.

Erich Honecker, zu dieser Zeit noch Sekretär des ZK, fungierte als Berichterstatter des Politbüros gegenüber dem Zentralkomitee und schloß seine Anklage mit dem Satz „Das Charakteristische all dieser Erscheinungen besteht darin, daß sie objektiv mit der Linie des Gegners übereinstimmen, durch die Verbreitung von Unmoral und Skeptizismus besonders die Intelligenz und die Jugend zu erreichen und im Zuge einer sogenannten Liberalisierung die DDR von innen her aufzuweichen.“

Die Diskussionsbeiträge der anklagenden Parteivertreter und die Verteidigungsversuche der Betroffenen im Zentralkomitee wurde im Neuen Deutschland abgedruckt. Sprache und Ritual erinnerten an einen ideologischen Gerichtshof. (Ich habe damals in West-Berlin Publizistik studiert und für einige westdeutsche Zeitungen und Zeitschriften über Film geschrieben; ich kann mich noch ziemlich genau an die Vorgänge erinnern, soweit sie aus meiner Situation nachzuvollziehen waren. Verschiedene Verbindungen zu DDR-Filmleuten gingen anschließend verloren). Die Folgen des 11. Plenums für die Verantwortlichen waren bitter: Reglementierungen, Entlassungen (auch Günter Witt und Joachim Mückenberger wurden entlassen), Disziplinierungen. Besonders deprimierend fand ich damals die Selbstkritik von Kurt Maetzig, die im Neuen Deutschland veröffentlicht wurde und einen für mich kaum verständlichen opportu-nistischen Unterton hatte.

Der Filmwissenschaftler Wolfgang Gersch, mit dem DDR-Film aufs beste vertraut, schreibt in der „Geschichte des deutschen Films“ (1993) zu den Hintergründen des 11. Plenums und seinen Folgen: „Über die Gründe für die punktuell massivste Zensurmaßnahme in der deutschen Filmgeschichte ist viel nachgedacht worden: Wollte die Parteiführung von der restriktiven Wirtschaftspolitik ablenken, indem sie Filme, aber auch Theaterstücke und Romane, als dem Sozialismus feindlich, angriff? War das Plenum ein Kotau vor den Dogmatikern in Moskau, die im Jahr zuvor Chruschtschow gestürzt hatten? Beides wahr-scheinlich. Aber in erster Linie wirkte der Machtinstinkt der Funktionäre, die genau wußten, daß öffentliche Kritik und Zweifel ihr illigitimes System zersetzen würden. So schlugen sie auf dem Plenum nicht nur auf die Dissidenten Wolf Biermann, Robert Havemann, Stefan Heym ein, sondern auch auf die DEFA-Leute, die verantwort-lichen Leiter, die Filmwissenschaftler, ungeschickter als Goebbels, aber mit der gleichen Infamie. Kalt übersahen sie die Hoffnungen, die die Filme in den Sozialismus investierten, verhöhnten deren Urheber als ‚Verrückte‘, zeigten ihnen die Instrumente, als sie sagten: keine Freiheit für Konterrevolutionäre. (…) Das Autodafé ruinierte Filme und Leben. Karrieren wurden vernichtet, verbogen, über viele Jahre behindert. Die DEFA kroch mit platten, die Parteipropaganda verbreitenden Filmen zu Kreuze.“

1966 gab es noch ein Nachspiel. Im Sommer des Jahres wurde – in einer seltsam verzögerten Reaktion – der Film Spur der Steine von Frank Beyer, nach dem Roman von Erik Neutsch verboten. Es gab eine Uraufführung in Potsdam, eine Ost-Berliner Premiere und gezielte Störungen durch FDJ-Gruppen. Der Film – er ist dann nach 1989 weithin bekannt geworden – schildert sehr freimütig Konflikte auf einer Großbaustelle der DDR. Ein Parteisekretär muß sich dort wegen unmoralischen Verhaltens und politisch-ideologischen Versagens vor der Parteileitung verantworten. In Rückblenden werden seine privaten und beruflichen Verstrickungen deutlich. Auch bei diesem Film ist die Kritk systemimmanent, aber die Kraft der Bilder und vor allem der anarchische Gestus einer Brigade unter Führung von Manfred Krug ging den Dogmatikern im Zentralkomitee zu weit. Auf ihren Druck hin wurde der Film schließlich als staatsfeindlich eingestuft und verschwand im Keller des Staatlichen Filmarchivs. Beyer wurde ans Dresdner Theater strafversetzt.

Die Bedeutung des 11. Plenums und der 1965/66 verbotenen Filme wurde in der ganzen Tragweite erst im Verlauf der Wende 1989/90 erkannt, als diese Filme gezeigt bzw., soweit sie noch unvollendet waren, fertiggestellt und vorgeführt wurden. Damit war ein erhebliches Stück Aufarbeitung der eigenen Geschichte verbunden. Es wurde nachgefragt, was damals alles passiert war, wie die Mechanismen der Disziplinierung und Selbstkritk funktionierten, wo es Solidarität gab oder wo die Falltüren ohne Skrupel geöffnet wurden. Der Filmwissenschaftler Rolf Richter, ab Herbst 1989 Vorsitzender der Kommission „Verbotene Filme“ des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR (und leider im August 1992 verstorben), hat in verschiedenen Reden und Interviews die Bedeutung der Filmverbote eingeschätzt:

„Die Filme waren damals kaum jemandem bekannt. Nur ein paar Verantwortliche in den Studios und im Kulturministerium hatten diese Filme gesehen. Sie waren für andere überhaupt nicht zugänglich und wurden schon gar nicht im Zusammenhang diskutiert oder analysiert. Auch die Teilnehmer des 11. Plenums hatten nur wenige Filme gesehen, ihnen genügten zwei, drei – Der Frühling braucht Zeit, Das Kaninchen bin ich, Denk bloß nicht ich heule – um ihr Verdikt auszusprechen, schon diese drei waren unerhört. Was wäre gewesen, wenn sie alle zwölf gesehen hätten? Was wäre in ihren Köpfen passiert, was in den Köpfen des Publikums, wenn es alle zwölf Filme gesehen hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Es wäre etwas geschehen und eben das wurde verhindert. Für uns gehören diese Filme zusammen, sie bilden einen originellen Komplex, ergänzen sich, stützen sich, erst zusammen versteht man Umfang und Intensität der Hoffnung auf Veränderung. Aber die Öffentlichkeit erfuhr damals nichts von den Filmen, sondern nur von deren Verurteilung.“

Der Korpus der „Verbotenen Filme von 1965/66“ wurde in der Phase der deutschen Einigung zu einem wichtigen Faustpfand der DDR-Filmemacher. Sie hatten damit als Beweis ihrer Kraft – und auch ihres Widerstands – etwas gemeinsam Erlittenes vorzuweisen. Das waren nicht ein paar Zensurfälle aus unterschiedlichen Zeiten, sondern ergab – von 1990 aus gesehen – ein sehr konkretes „Babelsberger Manifest“ des Aufbruchs 1965. Für den schwierigen Übergang der DDR-Staatsfilm-Künstler in die freie Marktwirtschaft der Bundesrepublik waren die Verbotsfilme ein politisch-moralisches Kapital, das sie in die neuen Geschäftsbeziehungen mitbrachten. Es war allerdings nichts Bares, also schwer konvertibel. Und 25 Jahre alt.

Auf den Verteilungskampf der Produktionsmittel im Film der Bundes-republik zu Beginn der 90er Jahre waren die einstmals festangestellten Autoren, Regisseure, Kameraleute, Darsteller und Techniker des DDR-Films nicht vorbereitet. Noch heute glauben viele von ihnen, daß die Abwicklung der DEFA eine Art Wirtschaftsvergehen an ihrem Eigentum war und der Betrieb – mit ein paar hilfreichen Unterstützungen – weiter hätte existieren können. Die Rückblicke zum 50. Geburtstag der DEFA, deren Firmenname im Januar 1994 aus dem Handelsregister gelöscht wurde, waren in Berlin und in den Neuen Ländern auffallend gefühlsbetont. Zu den kritisch-nachdenklichen Beiträgen gehörte ein 90-Minuten-Film von Ullrich Kasten, ausgestrahlt am 2. Mai in der ARD. Titel der Sendung: Es werden ein paar Filme bleiben. Erinnerungen an eine deutsche Filmgesellschaft.

Eine wichtige, aber auch deprimierende Feststellung beim Blick auf die 60er Jahre von heute aus: Westdeutscher und ostdeutscher Film haben die Koinzidenz ihrer Aufbrüche nicht zur Kenntnis genommen, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, weil sie ihren Blick längst voneinander abgewendet hatten und nicht mehr aneinander interessiert waren. Die Teilung Deutschlands wurde von ihnen als längst vollzogen angesehen. Ost-West-Begegnungen im Film waren Pflichtübungen, keine Neigungsbezeugungen.

Die Situation des deutschen Films heute ist ziemlich fatal. Der westdeutsche Film hat zwar in den 60er und 70er Jahren durch eine Vielzahl von Talenten und mit Hilfe öffentlicher Förderung kulturell von sich reden gemacht. Aber er hat gleichzeitig sein Publikum im Kino verloren und damit eine für die Filmproduktion notwendige wirtschaftliche Basis. Die Schuldzuweisungen – schuld sind u.a. blutarme Drehbücher, risikoscheue Produzenten, kommerzialisierte Fernsehanstalten, überalterte Förderungsgremien, allgemeine Bildungsdefizite, spezielles Desinteresse der Intelligenz am Kino – die Schuldzuweisungen sind vielfältig, aber sie liefern kaum Diagnosen und schon gar keine Therapien.

Gegen die Macht des Geldes – wie sie inzwischen militant von der amerikanischen Filmindustrie ausgeübt wird – ist der Widerstand der individuellen Phantasie auf einem Terrain der Kon-zentrationstendenz, der Vermarktungsstrategien, der finanziellen und technischen Groß-investitionen – ziemlich chancenlos. Einige Erfolge erzielt der deutsche Film zur Zeit mit leichten Komödien auf dem Gebiet der Unterhaltung Gerade das aber macht – angesichts der ökonomischen und sozialen Probleme in der Bundesrepublik – die politisch und kulturell enga-gierten Filmemacher – auch die aus der ehemaligen DDR – ganz fassungslos, und sie geraten selbst in bisher nicht gekannte soziale Unsicherheit.

Woher sollen Widerstand und Erneuerung jetzt kommen? Für das Kino – soweit es mit Kunst und Intelligenz zu tun hat – gibt es auf diese Frage zur Zeit keine Antwort. Es herrscht nur – wie immer – das Prinzip Hoffnung.

Universität Bonn, 29. Mai 1996