Texte & Reden
07. April 1995

Im Kino

Beitrag für die Berliner Zeitung

     1.

Das Paradies beginnt gleich hinter der Kasse: ein Raum, der dunkel wird, mit einem Vorhang, der sich lautlos öffnet und ein großes Rechteck freigibt, das sich mit bewegten Bildern füllt. Bequeme Sessel, Erwartung und Spannung, ein Gong ertönt, ein Löwe brüllt, der Film fängt an. Kino: das heißt, das Fremde entdecken und sich selbst vergessen, träumen, lachen, weinen, Angst bekommen, sich mutig fühlen, aus dem Gleichgewicht geraten, sich verführen lassen. Und all das passiert als Simulation, mit Bildern und Tönen, die uns zum mitfühlenden Beobachter, zum Voyeur, sogar zum Objekt machen. Im besten Fall entdecken wir uns im Kino aber auch selbst.

     2.

Ein alter, nur in der Investitionssumme überholter Berliner Kinospruch heißt: „Für fuffzich Fennje kann ich verlangen, daß an meine niedersten Instinkte appelliert wird.“ Etwas philosophischer ausgedrückt: „Im Sinne einer echten Metonymie wird das Nachtschwarz des Kinos präfiguriert von der ‚dämmernden Träumerei‘, die diesem Schwarz voraufgeht und von Straße zu Straße, von Plakat zu Plakat das Subjekt dahin führt, sich schließlich abgrundtief zu versenken in einen dunklen, anonymen, indifferenten Kubus, wo dies Fest der Affekte stattfindet, das Film heißt.“ (Roland Barthes). Sich im Kino Geschichten erzählen zu lassen, kostet heute im Schnitt zehn bis zwölf Mark. Das Vergnügen dauert zwei bis drei Stunden. Es beginnt mit der Werbung und endet mit der Auflistung aller an der Erzählung Beteiligten. In der Bundesrepublik werden pro Jahr noch immer 130 Millionen Kinobesucher gezählt. Es sind vor allem junge Leute.

     3.

Film und Kino sind Teile einer internationalen Unterhaltungsindustrie. Länder und Konzerne konkurrieren bei den Medien wie in der Computer- oder Stahlproduktion. Weltweit werden pro Jahr etwa 4.000 Kinofilme hergestellt. Knapp die Hälfte davon kommt gar nicht erst ins Kino, sie wird gleich ins Fernsehen oder auf den Videomarkt abgeschoben. An der Kasse wirklich erfolgreich sind in Europa und Amerika jährlich nur ein Dutzend Titel. Sie teilen sich 80 % des Umsatzes. Muß man nicht erstaunt und froh sein, wenn sich in diesem kommerziellen Dschungel fast heimlich und subversiv auch noch Kunst und Experiment, Aufklärung und Reflexion ereignen? Es wird offenbar immer schwieriger, Kunst und Reflexion im Kino zu verkaufen. Die Förderung macht es zwar möglich, anspruchsvolle Filme zu produzieren – aber was tun, wenn sie niemand sehen will?

     4.

Zum Reichtum des Kinos gehört die Vielfalt der Filme: der Themen, der Stoffe, der Genres, der Stile. Es ist doch paradiesisch, wenn man in einer großen Stadt an einem Abend wirklich die freie Auswahl hat: zwischen Melodram und Liebesfilm, Komödie und Lustspiel, Psychodrama und Kriminalfilm, Problemfilm und Sozialstück, Musikfilm und Literaturverfilmung, Western und Science-fiction, Experimental- und Dokumentarfilm, alten und neuen Filmen. Seien wir nicht undankbar. In Berlin ist die Kinolandschaft bunter und attraktiver als in Hamburg oder München. Aber wenn wir uns dann aufmachen ins Kino, locken uns doch immer wieder die großen Traum-stücke, und wir lassen die kleinen Kunststücke unbeachtet links liegen.

     5.

Zum Reichtum des Kinos gehört auch die Geschichte des Films. Natürlich ersetzen 20 Fernsehkanäle mit 7.000 alten Spielfilmen im Jahr nicht das musée imaginaire. Der Stummfilm mit Livemusik, der Film Noir in originaler Sprachfassung, der Techni-colorfilm in alter Farbkopie, der 70mm-Film auf der großen Leinwand sollten in einer lebendigen Kulturstadt präsent sein. Die Archive restaurieren und rekonstruieren nach Kräften. In Berlin stellen Arsenal, Babylon und Zeughauskino, Checkpoint, FSK und Moviemento originelle Retrospektiven zusammen. Aber auch hier ist zu konstatieren, daß der Glitter des Neuen, Aktuellen das Interesse am Alten überstrahlt. François Truffaut oder Rainer Werner Fassbinder haben sich ihre Lieblingsfilme immer wieder angesehen. Sind solche Kinoobsessionen Vergangenheit?

     6.

Kinoobsessionen beginnen in der Kindheit und Jugend: „Meine ersten zweihundert Filme habe ich im Stande der Heimlichkeit gesehen, im Schutz der Schule, die ich schwänzte, oder auch, indem ich abends die Abwesenheit meiner Eltern ausnutzte – wenn sie zurückkamen, mußte ich wieder im Bett liegen und so tun, als ob ich schliefe. Ich bezahlte dieses große Vergnügen mit argen Bauchschmerzen, Magendrücken, Angst im Kopf und Schuldgefühlen, die die von dem Schauspiel ausgelösten Gefühlsbewegungen natürlich nur noch steigerten.“ (François Trufffaut). Fassbinders Mutter Liselotte Eder: „Ich pflege zu sagen, daß Rainer auf den Windeln ins Kino rutschte, aber auf jeden Fall seit er sieben war, und sehr gegen meinen Willen. Filme waren für mich etwas für den Samstagnachmittag, aber nicht mehrmals am Tag, und ich habe oft gedacht, was soll aus dem Kind noch werden. Ich hatte ja keine Ahnung, was er sich auf diese Art beigebracht hat.“ „Als ich zum erstenmal die Schule schwänzte und ins Paramount ging, wurden die Lichter plötzlich am Ende des Films angemacht, und Duke Ellingtons Band tauchte aus dem Orchestergraben auf und spielte ‚Take the A-Train‘. Ich konnte es nicht fassen. Es haute mich um.“ (Woody Allen). Was für wunderbare Sozialisationen.

     7.

Störenfriede im Kinoparadies sind  Popcorn-Esser und Bonbonpapier-Raschler, laute Schwätzer, Sitzriesen, Leute, die zu spät kommen und schon vor dem letzten Bild aufstehen. Ihre Zahl ist auf dem Vormarsch. Sie haben von der Seele des Kinos nichts begriffen.

     8.

Zum Reichtum des Kinos tragen Produzenten, Autoren, Regisseure, Kameraleute, Tonmeister, Cutterinnen, Komponisten, Set Designer und all die Spezialisten bei, die im Nachspann genannt werden. Am bekanntesten sind immer die Schauspielerinnen und Schauspieler. Gesichter, die sich für uns mit dem Kino verbinden. Das begann mit Lilian Gish und Mary Pickford, Henny Porten und Asta Nielsen. An guten Darstellern mangelt es dem deutschen Film bis heute nicht. Aber an Stars, die zu Mythen werden. Da ist Amerika nicht zu schlagen.

     9.

Die Amerikaner beherrschen natürlich auch den Markt. Ihre Millionen-$$-Filme mit Millionen-Zuschauern heißen bei uns zur Zeit FORREST GUMP, STARGATE, OUTBREAK oder DUMM UND DÜMMER. Acht deutsche Filme sind jetzt für den Bundesfilmpreis nominiert. Nur einer konnte sich gegen die Amerikaner behaupten: DER BEWEGTE MANN, rund 6 Millionen Zuschauer. KEINER LIEBT MICH brachte es immerhin auf 1,2 Millionen. Der Bavaria-Thriller DIE SIEGER(Produktionskosten: 14 Millionen DM) war mit 170.000 Zuschauern ein katastrophaler Reinfall. 34.000 sahen den Low-Budget-Film BURNING LIFE. Zu den Titeln MARIES LIED, HASENJAGD, ICH BIN NICHT GOTT, ABER WIE GOTT und VERHÄNGNIS, die zum Teil noch nicht im Kino laufen, liegen Angaben nicht vor. Keiner wird eine sechsstellige Besucherzahl erreichen. Im Kampf um die Marktanteile spielen Werbestrategien und Zuschauererwartungen, publizistische Resonanz und Ereignischarakter die Hauptrollen. Das Zauberwort heißt ‚Event‘. Nichts Alltägliches darf es sein, nur das Besondere zählt. So gesehen sind die Ansprüche an das Kino als Paradies gewachsen. Aber es soll niemand behaupten, dies habe etwas mit der Qualität der Filme zu tun.

     10.

Ein Paradies gleich hinter der Kasse? Manchmal wirkt es heute wie verloren. Aber sein Herz – der Projektor – hat noch genügend Energie. Und es werden immer neue Paradiese gebaut. Sie funktionieren natürlich anders als die Paläste in der guten alten Kinozeit. Sie sind aber auch nicht mehr so trist wie die ominösen Schachteln in den siebziger Jahren. Wir befinden uns beim Film und im Kino nicht mehr im Stande irgendeiner Unschuld. Die digitale Medienzukunft hat längst begonnen. Aber ein paar Hoffnungen und Träume werden doch noch erlaubt sein.

Berliner Zeitung, 7. April 1995