Texte & Reden
30. Juli 1993

Sechs Augenblicke des deutschen Films

Beitrag zu einer Festschrift für Sieghardt von Köckritz

Die Suche der Filmwissenschaft nach Anerkennung und Identität war in Deutschland immer überschattet vom höheren Kunstnimbus der Literatur, des Theaters, der Musik und der Bildenden Kunst. In der Debatte darüber, wie Filme zu sehen, zu lesen, zu interpretieren oder zu analysieren seien, hat sich der theoretische Diskurs von seinem Gegenstand oft extrem entfernt. In den Filmphilologien, deren Schulen und Cliquen sich auf Kongressen und in Publikationen bekämpfen, ist vom schöpferischen Reichtum der Kinematographie nicht mehr viel zu spüren. Auch zum aktuellen Zustand des europäischen Films liefert die Wissenschaft wenig Verständnishilfe. Von den Herausgebern dieser Festschrift gebeten, über „Filmwissenschaft in Deutschland – eine öffentliche Aufgabe“ zu schreiben, möchte ich das Thema verfehlen und eine andere Spur aufnehmen. Ich versuche, in sechs Augenblicken des deutschen Films Aspekte seiner Geschichte, seiner kulturellen und politischen Bedeutung zu entdecken.

14. August 1945

Der Krieg in Europa und die Nazi-Diktatur sind drei Monate zuvor durch die Rote Armee und die amerikanischen Truppen zu einem Ende gebracht worden. Am 14. August kapituliert Japans Regierung, ohnmächtig nach dem Grauen der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. An diesem Tag sitzt der Autor und Regisseur Billy Wilder in Berlin an seiner Schreibmaschine. Er ist Berater für Filmangelegenheiten bei der Information Control Division, eine Art Filmoffizier. Er beaufsichtigt die Montage des Dokumentarfilms Die Todesmühlen und befaßt sich mit der Reorganisation der deutschen Filmwirtschaft. Er schreibt:

„Zur Zeit eröffnen wir also nach und nach die Filmtheater in Deutschland wieder. Wir zeigen den Deutschen in unseren Dokumentarfilmen einige Fakten, die sie kennenlernen und gut in Erinnerung behalten sollten. Wir zeigen ihnen Wochenschauen, die mit den Nachrichten gleichzeitig eine Lehre, eine Mahnung und eine Warnung verbinden. Zweifellos ist gut Arbeit geleistet worden. Die Deutschen sind im allgemeinen sehr empfänglich, und die Reaktion ist positiv. Die Besucherzahlen schwanken zwischen ausverkauft und zufriedenstellend. Und doch wissen wir alle: Wenn dieses Neue seinen Reiz verloren hat, wird es immer schwieriger werden, ihnen so direkte Lektionen zu geben. Werden die Deutschen weiterhin Woche für Woche ins Kino kommen, um den schuldbewußten Schüler zu spielen? Wir werden ihnen selbstverständlich unsere Spielfilme zeigen, die reine Unterhaltung neben den Dokumentarfilmen. Und sie werden natürlich kommen. Aber wir werden sie wahrscheinlich apathisch durch diese Dokumentarfilme und erzieherischen Wochenschauen dösen sehen – dann wach und bereit für Rita Hayworth in Cover Girl. Cover Girl ist gewiß ein guter Film. Er hat eine Liebesgeschichte, er hat Musik und ist in Technicolor. Für unser Programm zur Umerziehung der deutschen Bevölkerung nützt er allerdings nicht viel. Wenn man nun aber einen Unterhaltungsfilm mit Rita Hayworth, Ingrid Bergman oder Gary Cooper machte, in Technicolor, wenn Sie wollen, und mit einer Liebesgeschichte – freilich mit einer ganz speziellen Liebesgeschichte, raffiniert gemacht, um ein bißchen Ideologie an den Mann bringen zu helfen -, mit einem solchen Film hätten wir ein glänzendes Stück Propaganda in der Hand. Sie würden vor den Kassen Schlange stehen, und wenn sie ihn erst gesehen hätten, würde er haften bleiben. Leider gibt es diesen Film noch nicht. Er muß gemacht werden.“

Wilder, der Emigrant, den die Nazis 1933 vertrieben haben, ist 1945 39 Jahre alt. Eine Rückkehr nach Deutschland kommt für ihn nicht in Frage. Zwar wird er hier drei Filme drehen (A Foreign Affair, 1948; One, Two, Three, 1961; Fedora, 1977), aber er ist längst zum Hollywood-Regisseur geworden, dem die westdeutschen Produzenten wenig zu bieten haben. Seine bösartigen Komödien brauchen den Kontext der amerikanischen Gesellschaft. Aber braucht man in Deutschland nicht die Kraft der Begabtesten aus der Weimarer Zeit? Den Verlust seiner jüdischen Autoren, Regisseure, Kameraleute, Komponisten nach 1933 hat das deutsche Kino nie wirklich verschmerzen können.

Am 14. August 1945 wird in Düsseldorf Ernst Wilhelm Wenders geboren: in eine Welt, deren Verwüstung irreparabel erscheint, deren Aufteilung in westliche und östliche, kapitalistische und kommunistische Einflußsphären auf Jahrzehnte das Denken und Handeln bestimmt. Wim Wenders wird an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film studieren und zu einem der bekanntesten Regisseure der Bundesrepublik werden. Er wird von 1977 bis 1984 in Amerika arbeiten, weil er sich dort den Traum vom großen Kino erfüllen möchte. „Gegenwart kann man nur leben“, wird er 1991 sagen, „wenn die Vergangenheit ein offenes Buch und die Zukunft ein freies Feld ist. Das habe ich erst aus dem amerikanischen Kino erfahren. Dort war die Weite, in meinem Land war die Enge. Den Horizont habe ich in den amerikanischen Western kennengelernt, die die amerikanische Geschichte verfälscht haben mögen, aber es trotzdem verstanden, Geschichten zu erzählen, die in Geschichte verankert waren. Ich war eine leichte Beute für diese amerikanischen Mythen, lebte ich doch in einem mythenlosen Land, einem, das sich mir als geschichtslos und geschichtenlos darstellte.“ Von diesem Land, von der Ferne und von sich selbst werden später die Filme von Wim Wenders erzählen, die so schöne Titel haben wie Summer in the City, Im Lauf der Zeit, Der Stand der Dinge, Bis ans Ende der Welt und  In der Ferne, so nah.

6. Juni 1951

Es ist das Jahr, in dem der Krieg in Korea durch einen Waffenstillstand beendet wird, in dem die deutsche Teilung – nach Aufhebung der Berliner Blockade – so etwas wie Normalität gewinnt. In der Bundesrepublik (man ergänzt immmer: einschließlich Berlin-West) gibt es 4.547 Kinos. 555 Millionen Zuschauer werden gezählt. Das Fernsehen befindet sich in seiner Vorbereitungsphase. „Drüben“, in der DDR, hat Wolfgang Staudtes Film Der Untertan Premiere: ein Meisterwerk der Satire, das erst fünf Jahre später – mit verschiedenen Schnitten – in der Bundesrepublik gezeigt werden darf.

Am Abend des 6. Juni 1951 werden im West-Berliner Titania-Palast die ersten „Internationalen Filmfestspiele“ eröffnet. Zum Rahmenprogramm gehört die Verleihung des ‚Deutschen Filmpreises‘. Er wird zum ersten Mal vergeben. In Vertretung des Innenministers Gustav Lehr überreicht Staatssekretär Erich Wende den Wanderpreis ‚Goldener Leuchter‘ an die Hersteller des Films Das doppelte Lottchen, das ‚Filmband in Gold‘ an den Autor Erich Kästner, den ‚Regiepreis in Gold‘ an Josef von Baky. Kästner/von Baky – das war auch jenes Paar, das 1943 für den Ufa-Jubiläumsfilm Münchhausen verantwortlich zeichnete (Kästner, von den Nazis nicht gelitten, unter dem Pseudonym Berthold Bürger): Garanten für intelligentes Unterhaltungskino. Was man von ihnen nicht erwarten durfte, worauf aber generell gehofft wurde: daß auch reflexive, die jüngste deutsche Geschichte überdenkende Filme gemacht würden, daß neben den erzählenden, traditionellen Formen eine alternative, offene Filmsprache entstehen könnte, die – wie in Italien der Neorealismus – auf die Realität reagierte. Billy Wilders Prognose, daß das deutsche Publikum sich nicht langfristig belehren lassen werde und Ideologie – also politische Botschaft – nur als Schmuggelware zu transportieren sei, hat sich schnell bewahrheitet. Herrschende Ideologie ist jetzt der Aufbauwille, während sich die historische Schuld verdrängen läßt. Gefragt sind Erfolg und Harmonie. Auch die Geschichte vom doppelten Lottchen endet mit der Versöhnung der geschiedenen Eltern.

Anläßlich der ersten Berliner Filmfestspiele – die sich später zum wichtigsten filmkulturellen Treffpunkt der Bundesrepublik entwickeln – schreibt der Produzent Hans Abich in der Wochenzeitung  Die Zeit über die Krise des deutschen Films: „Die Alliierten haben uns auf dem Filmgebiet mit einer Hartnäckigkeit, die kaufmännischen Blick verrät, Zersplitterung verordnet. Dadurch ist planvolles Arbeiten in der Filmindustrie fast unmöglich gemacht. Und als Ergebnis ist eine Unrentabilität in unserer Filmwirtschaft eingetreten, die nur noch von außerordentlichen Einzelerfolgen überwunden wird. Trotzdem will niemand die Kinos missen oder abschaffen. Die wenigsten haben aber begreiflicher-weise Neigung, sich von der Filmproduktion vorhalten zu lassen, woran es überall fehle: am Geld, das nur langwierig und zu unerquicklichen Zinssätzen beschaffbar ist; an Stoffen, die, soweit wir die ‚guten‘ meinen, erschreckend rar sind; an den Regisseuren, von denen nur wenige bisher nicht enttäuscht hätten; am Publikum auch, das den guten Film nicht im Stich ließe; schließlich an dem, was wir im Staate eine Kulturpolitik nennen möchten, die heute schuldig-unschuldig zum Angstressort der einzelnen Länder geworden ist. “

Abich nennt alle Bestandteile der deutschen Filmkrise, die vierzig Jahre lang die Diskussion beherrschen werden: die Finanzen, die Drehbücher, die Macher, die Zuschauer und die Förderung. Nur vom Fernsehen kann noch nicht die Rede sein, denn das fängt erst ein Jahr später zu senden an. Interessant ist der Hinweis auf die ängstlichen Länder. Der Kulturföderalismus hat dem deutschen Kino der fünfziger Jahre in der Tat eher geschadet als genutzt. Immer auf die wirtschaftliche Entwicklung des Films starrend, wird die künstlerische zu wenig beachtet. Die Länder kümmern sich – im Gegensatz zum Bund – nicht um die Filmkultur. Vor allem der Nachwuchs bleibt ganz sich selbst überlassen. Sein Übungsfeld wird der Kurzfilm. Nach elf Jahren gibt es einen Aufstand.

28. Februar 1962

Seit dem Bau der Berliner Mauer sind sechs Monate vergangen. Es ist das Jahr der Kuba-Krise und der Spiegel-Affäre. In der Bundesrepublik gibt es 6.327 Kinos. Gezählt werden 443 Millionen Zuschauer, 374 Millionen weniger als 1956. Am Verleihumsatz ist der deutsche Film mit 28,5 % beteiligt; 1956 waren es noch 46,6 %. Es gibt inzwischen 5,9 Millionen Fernsehteilnehmer.

Am 28. Februar, zwei Wochen nach dem faktischen Ende der Nachkriegs-Ufa, verliest der Filmemacher Ferdinand Khittl auf einer Pressekonferenz während der VIII. Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen ein Manifest, das er und 25 seiner Kollegen unterzeichnet haben. Es ist ein Verdikt des bundesdeutschen Films der fünfziger Jahre, kämpferisch und selbstbewußt formuliert:

„Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden. Dadurch hat der neue deutsche Film die Chance lebendig zu werden. Deutsche Kurzfilme von jungen Autoren, Regisseuren und Produzenten erhielten in den letzten Jahren eine große Anzahl von Preisen auf internationalen Festivals und fanden Anerkennung der internationalen Kritik. Diese Arbeiten und ihre Erfolge zeigen, daß die Zukunft des deutschen Films bei denen liegt, die bewiesen haben, daß sie eine neue Sprache des Films sprechen. Wie in anderen Ländern, so ist auch in Deutschland der Kurzfilm Schule und Experimentierfeld des Spielfilms geworden. Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den brancheüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessen-gruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ Zu den Unterzeichnern des Manifests gehören Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Haro Senft, Franz-Josef Spieker, Hans-Rolf Strobel, Wolfgang Urchs und Herbert Vesely.

Am 28. Februar 1962 heißt der Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „Papas Kino ist tot“. Karl Korn stellt einen internationalen Zusammenhang her und plädiert für Erneuerung: „Der Film ist in der ganzen Welt trotz der überall bedrohlich aufkommenden Konkurrenz des Fernsehens noch immer eines der mächtigsten Ausdrucksmittel modernen Lebens. Italien verdankt es seinem Nachkriegsfilm, daß das Land im Bewußtsein der Welt sozusagen neoveristisch geworden ist, das heißt nicht mehr opernhaft gegenwärtig ist. Auch Frankreich ist eine der ersten Filmnationen. Cinéasten repräsentieren das Land im gleichen Rang wie Schriftsteller und Maler. Und der Staat weiß in Frankreich wie in Italien, was man mit dem Film gewinnen und welche ‚realen‘ Defizite man mit seiner enormen Suggestivkraft ausgleichen kann. Wenn wir endlich wieder mit einigen deutschen Filmen international antreten wollen, dann nur durch eine personelle Erneuerung der Regie-, Darsteller- und Kamerateams. Es wäre denkbar, daß sich auch industrielle Filmmäzene finden, wenn die öffentliche Hand ihre Prämienhilfen verstärkt und konsequent an energische Talente leitet. Die Luft in unseren Filmbüros ist muffig geworden. Helft euch selbst, dann wird man euch helfen.“

Der Nachwuchs hilft sich selbst, und man hilft ihm. Innenminister Hermann Höcherl hat ein Ohr für die selbstbewußten und eloquenten Filmemacher. Er finanziert das ‚Kuratorium junger deutscher Film‘ mit 5 Millionen DM, bis es in die Obhut der Länder übergeht. 1966 gewinnen drei bundesdeutsche Filme auf den drei wichtigsten internationalen Festivals (Cannes, Berlin, Venedig) Hauptpreise.

30. Juni 1966

Fünf Jahre nach dem Bau der Mauer, die aus offizieller DDR-Sicht ein Schutzwall gegen den aggressiven Kapitalismus sein soll. Noch hat Walter Ulbricht alle Macht. Es ist das Jahr, in dem Ludwig Erhard als Kanzler der Bundesrepublik zurücktritt und eine Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger die Regierung bildet.

Am 30. Juni findet die Ost-Berliner Premiere des Films Spur der Steine von Frank Beyer im Kino International in der Karl-Marx-Allee statt. Das ‚Schöpferkollektiv‘ ist telegraphisch gebeten worden, der Veranstaltung fernzubleiben. Die zunächst stolz annoncierte Festaufführung eines neuen Defa-Films wird zu einem seltsamen Kinospuk. Kein Plakat, kein Aushangphoto am Kino, aber drei Tage lang ausverkaufte Vorstellungen. In den Vorführungen gibt es pointierte, offenbar inszenierte Zwischenrufe. Eine Parteikolonne spielt Ablehnung, das zahlende Publikum signalisiert Zustimmung. So offen, aber verheimlicht ist niemals zuvor oder danach über einen Defa-Film gestritten worden. Kein Wort in den Zeitungen, der Film verschwindet im Archiv. Nach einigen Tagen steht ein Nachruf im Neuen Deutschland: „Der Film erfaßt nicht das Ethos, die politisch-moralische Kraft der Partei der Arbeiterklasse und der Ideen des Sozialismus, bringt dafür aber Szenen, die bei den Zuschauern mit Recht Empörung auslösen.“

Spur der Steine – gedreht nach Motiven eines erfolgreichen Romans – schildert Konflikte auf einer DDR-Großbaustelle, in die ein anarchischer Zimmermann-Brigadier (gespielt von Manfred Krug), ein liberaler Parteisekretär und eine junge Ingenieurin verwickelt sind. Es geht um Heuchelei, doppelte Moral und Dogmatismus in der sozialistischen Gesellschaft, um Schwierigkeiten des ökonomischen Systems, bei denen die „führende Rolle der Partei“ in Frage gestellt wird. Zu den lustigsten Szenen des Films gehört das Nacktbad von sechs Zimmerleuten im Dorfteich, die einen protestierenden Volkspolizisten zu sich ins Wasser holen.

Ihre besondere Bedeutung bekommt die Affäre um den Film Spur der Steine durch den sechs Monate zuvor vom Zentralkomitee der SED verordneten kulturpolitischen Reinigungsprozeß (bekannt unter dem Begriff: das 11. Plenum), bei dem zahlreiche Gegenwartsfilme verboten worden sind. Just in der Aufbruchsphase des bundesdeutschen Films, als Volker Schlöndorffs Der junge Törless, Peter Schamonis Schonzeit für Füchse und Alexander Kluges Abschied von gestern internationale Beachtung finden, knebelt die SED ihre Staatsfilmgesellschaft und deren begabteste Regisseure.

Im September 1966 nimmt der wichtigste DDR-Regisseur, Konrad Wolf, zum Verbot des Films Spur der Steine in einem Brief an die Zentrale Parteileitung im Defa-Studio für Spielfilme Stellung: „Es steht außer Zweifel, daß ein Regisseur die volle Verantwortung für den durch ihn inszenierten Film trägt. Besonders für seine inhaltlich-politische Konzeption. Das bezieht sich auch auf den Genossen Frank Beyer, und ich bin überzeugt, daß er zu dieser Verantwortung steht. Muß man aber nicht auch die Frage stellen: Wo liegt eigentlich die persönliche Verantwortung eines jeden von uns? Besteht eine Berechtigung, das Feuer der Kritik ausschließlich auf Frank Beyer zu richten? Ist der Film etwa im stillen Kämmerlein entstanden? Haben wir nicht einige Male und sehr ausführlich in der Gruppe, mit Genossen der staatlichen Leitungen und der Kulturabteilung, schließlich im Filmbeirat diskutiert? Natürlich gab es kritische Meinungen und Argumente, aber wir haben uns dann schließlich und endlich geeinigt und den Film alle für gut und aufführungswürdig gefunden. Das kann doch nicht einfach mit einem Nebensatz abgetan werden. Ich respektiere entgegengesetzte Auffassungen und bin bereit, mich weiterhin sehr gründlich mit ihnen zu befassen. Ich bezweifle auch keine Sekunde die Berechtigung des Ministers für Kultur, so schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Ich werde mich auch an die Beschlüsse unserer Partei halten. Das ist für mich selbstverständlich. Dabei möchte ich jedoch nicht im geringsten verheimlichen, daß ich noch nie mit so viel Sorge unsere zukünftige Gegenwartsproduktion gesehen habe wie eben jetzt. Und alle unsere Bemühungen, auch wenn sie noch so viel Kraft und Energie kosten sollten, müßten darauf gerichtet sein, daß unsere zukünftige Produktion so schnell wie möglich mit der wirksamen künstlerischen Gestaltung unseres Heute hilft, die schwere Krise unseres Films zu überwinden.“

Besonnene, eindringliche Worte, die nicht gehört werden. Trotz seiner außerordentlichen Reputation kann Konrad Wolf – ein Emigrant auch er, 19jährig als Rotarmist nach Deutschland zurückgekehrt – die Filmpolitik in der DDR nur wenig beeinflussen. Es ist ein ganz spezielles Kapitel deutscher Filmgeschichte, das die Überschrift DEFA trägt und von 1946 bis 1990 dauert. Seine Aufarbeitung wird steinig sein, seine Spuren müssen gesichert werden.

10. Juni 1982

Es ist das Jahr, in dem die sozial-liberale Koalition zerbricht und Helmut Kohl neuer Kanzler der Bundesrepublik wird. Im Oktober wird Achternbuschs Film Das gespenst uraufgeführt, der den neuen Innenminister Friedrich Zimmermann auf den Plan ruft. Es gibt in der Bundesrepublik noch 3.598 Kinos, die von 124 Millionen Zuschauer besucht werden. Am Verleihumsatz ist der deutsche Film nur noch mit 11,3 % beteiligt. Fernsehteilnehmer: 21,8 Millionen.

Zwanzig Jahre nach dem ‚Oberhausener Manifest‘ hat der bundesdeutsche Film – künstlerisch – ein Stück Weltgeltung erlangt. Sie ist verbunden mit den Namen Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog, Alexander Kluge, Peter Lilienthal, Helma Sanders-Brahms, Volker Schlöndorff, Werner Schroeter, Hans Jürgen Syberberg, Margarethe von Trotta, Wim Wenders, Bernhard Wicki. Am 10. Juni 1982  stirbt Rainer Werner Fassbinder, 37 Jahre alt.

Wolfram Schütte findet in seinem Nachruf in der Frankfurter Rundschau ein eigenwilliges Bild: „Wenn man sich den Neuen deutschen Film allegorisch als Mensch imaginierte, so wäre Kluge sein Kopf, Herzog sein Wille, Wenders sein Auge, Schlöndorff seine Hände und Füße et tutti quanti dies und das; aber Fassbinder wäre sein Herz gewesen, die lebende Mitte. Die Vorlieben, persönlichen Gewichtungen mögen für diesen oder jenen unter den deutschen Filmemachern bei dem einen oder anderen verschieden aussehen: Zum offenen Montage- und Collage-Film Alexander Kluges, zum radikal anarchistischen Kino Achternbuschs, zum ästhetischen Delirium Werner Schroeters mag mancher sich mehr hingezogen fühlen; aber ungeachtet solcher subjektiven Präferenzen wird keiner leugnen können, daß Rainer Werner Fassbinder die dominierende künstlerische Persönlichkeit des Neuen deutschen Films war; daß er im Zentrum unseres Films stand, weil er, auf verschiedene Weise zwischen Avantgarde und Konvention, zwischen dem Neuen und dem Alten, zwischen den Medien (Film, Fernsehen, Theater) vermittelte, weil er sowohl naiver als auch unbefangener, von Skrupeln freier wie phantasievoller als viele seiner Kollegen sich mit seinen Arbeiten in verschmähte, tabuisierte oder vergessene/verdrängte Traditionen des deutschen und amerikanischen Kinos stellte. Er war ein Autor vom Zuschnitt Balzacs.“

44 Film- und Fernsehproduktionen sind Fassbinders Hinterlassenschaft: ein Oeuvre, dessen thematischer und ästhetischer Reichtum hierzulande ohne Vergleich ist. Es enthält – wie in einem eigenen Zyklus – die differenziertesten Frauenporträts des deutschen Nachkriegsfilms: Angst essen Seele auf, Martha , Fontane Effi Briest, Die Ehe der Maria Braun, Lili Marleen, Lola, Die Sehnsucht der Veronika Voss. Fassbinder war für den bundesdeutschen Film der wichtigste Chronist der menschlichen Gefühle, der Hoffnungen, der Träume, der Gewalt, der Verluste. Ihn selbst zu verlieren, ist für den deutschen Film folgenreich.

6. Juni 1991

Es ist das Jahr nach der deutschen Einigung, in dem die Euphorie von Realitäten überlagert wird. Die Bundesrepublik hat nunmehr 79,7 Millionen Einwohner. Es gibt 3.686 Kinos in den alten und neuen Ländern, die von 119,9 Millionen Zuschauer besucht werden. Der Verleihumsatz des deutschen Films beträgt 13,6 % (amerikanischer Film: 80,2 %). In 48 % der deutschen Haushalte steht ein Videorecorder. In den öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehprogrammen werden 5.377 Spielfilme ausgestrahlt.

Am 6. Juni 1991 – genau 40 Jahre nach der ersten Verleihung des ‚Deutschen Filmpreises‘ – findet im Berliner ‚Theater des Westens‘ die erste Vergabe der Bundesfilmpreise für ganz Deutschland statt. Innenminister Wolfgang Schäuble („Uns allen wünsche ich ein deutsches Filmschaffen, das an die große Tradition des deutschen Films anknüpft und auch international die ihm gebührende Anerkennung erhält.“) zeichnet den Film Malina mit dem Filmband in Gold aus. Die Jury hat sich damit mutig für den kühnsten der nominierten Filme entschieden: ein schwer zu entzifferndes Kunstwerk, das ohne falsche Eindeutigkeit die Geschichte der Selbstzerstörung einer Frau erzählt. Es ist ein Film von europäischer Dimension: gedreht nach der „imaginären Autobiographie“ von Ingeborg Bachmann (Drehbuch: Elfriede Jelinek), inszeniert von dem bildersüchtigen Werner Schroeter (Filmband in Gold), photographiert von Elfi Mikesch, montiert von Juliane Lorenz (Filmband in Gold), ausgestattet von Alberte Barsacq, gespielt von der Französin Isabelle Huppert (Filmband in Gold), produziert von dem enthusiatischen Münchner Kinobesitzer Thomas Kuchenreuther (Filmband in Gold). Der deutsche Film der neunziger Jahre hat sein erstes Meisterwerk, auch wenn dies von einem größeren Publikum gar nicht bemerkt wird.

Am 6. Juni 1991 wird der DDR-Regisseur Frank Beyer, 59 Jahre alt, für sein Gesamtwerk mit einem ‚Filmband in Gold‘ ausgezeichnet. In der Laudatio, die von Wim Wenders vorgetragen wird, heißt es u.a.: „Frank Beyer geriet in gesamtdeutsche Schlagzeilen, als sein Film Spur der Steine mitten im Herbst 1989 aus dem Tresor geholt und wieder in die Kinos gebracht wurde, nach einem Einvierteljahrhundert währenden Bannfluch. So bewies auch die Filmkunst, daß sich etwas geändert hatte in unserem Land. Filme wie Spur der Steine erinnern uns daran, daß bei der Defa zeitlos schöne und wichtige Filme gedreht wurden, mit einer Professionalität, die weltweiten Vergleich nicht scheuen muß. Beyer-Filme versanken gelegentlich im Tiefkeller oder wurden heimlich ins Fernsehnachtprogramm abgeschoben. Ich zitiere Frank Beyer: ‚In meiner Arbeit als Regisseur habe ich immer nach Geschichten gesucht, die eine packende Idee mit einer wirksamen Handlung verknüpften und damit starke Emotionen beim Zuschauer auslösten.‘ Obwohl dieses Beyer-Zitat noch aus dem Neuen Deutschland stammt, kann man es getrost glauben, und wer Beyers Filme sieht, merkt das sofort. Gesellschaftliche Analyse, Behutsamkeit und Gefühl, Beyer hat für diese Quadratur des Kreises die Formel gefunden.“

Im Film – wo es um Geld, um Erfolg und gelegentlich auch um Kunst geht – ist es vielleicht noch schwerer als in der Literatur, in der Musik oder im Theater, den Kreis zu quadrieren. 1995 wird die Kinematographie 100 Jahre alt. Eine ihrer Geburtststätten ist Berlin, wo die Brüder Skladanowsky am 1. November 1895 im ‚Wintergarten‘ die erste öffentliche Filmvorführung veranstaltet haben. Es gab in der Geschichte des deutschen Films – wie in der Geschichte der Politik – Augenblicke und Phasen des Erfolges und der Niederlage. Die Filmhistoriker werden in der nächsten Zeit nicht müde werden, an beides zu erinnern.

Geschrieben im Juli 1993 in der Hoffnung, daß es über alle krisenhaften Augenblicke hinaus auch weiterhin eine gesamtstaatliche Verantwortung für die Filmkultur gibt.