DIE FREUDLOSE GASSE (1925)

Filmeinführung in Hongkong

die freudlose gasse ist einer der berühmtesten deutschen Filme aus der Weimarer Republik. Unter den Darstellern findet man so prominente Namen wie Greta Garbo, Asta Nielsen, Werner Krauß und Valeska Gert. G. W. Pabst war einer der wichtigsten Regisseure der zwanziger Jahre, Guido Seeber galt als herausragender Kameramann. Das Thema des Films, die Käuflichkeit des Menschen in Notzeiten, beschäftigt Interpreten und Analytiker bis in die heutige Zeit. In den letzten Jahren ist der Film vor allem aus feministischer Perspektive betrachtet worden. Zu diesem Aspekt dürfen Sie von mir jetzt allerdings keinen Beitrag erwarten.

Meine kurzen Hinweise gelten der Rekonstruktion des Films, an der seit 1988 in München gearbeitet wird. Die Fassung, die Sie gleich sehen werden, ist mit Sicherheit nicht endgültig. Aber sie ist vollständiger als alle Kopien, die in den letzten Jahrzehnten zu sehen waren.

Der Film wurde im Mai 1925 in Berlin uraufgeführt. Er war von Anfang an ein beliebtes Objekt der Zensurbehörden wegen seiner „entsittlichenden und verrohenden Tendenzen“. Eine Hauptfigur ist schließlich ein Fleischermeister, und es geht um verschiedene Formen der Prostitution.

Die Originallänge des Films betrug 3.738 Meter. Bis Mitte 1927 hatte die Zensur 260 Meter herausgeschnitten. Leider sind weder das Negativ noch eine Kopie der deutschen Fassung erhalten. Gottlob wurde der Film sehr schnell nach seiner Fertigstellung in verschiedene Länder verkauft. Dafür gab es ein zweites Kamera-Negativ. Das heißt, der Film ist mit zwei, vielleicht sogar mit drei Kameras gleichzeitig gedreht worden. Die Einstellungen waren nur wenig voneinander verschieden.

Auch im Ausland wurde die freudlose gasse heftig zensiert und gekürzt. Allerdings geschah dies mit sehr unterschiedlichen Akzenten. Erhalten geblieben sind: eine englische Fassung (2.160 m lang), eine französische (2.300 m) und eine russische (2.950 m). In der russischen Kopie gibt es wiederum eine Reihe von Szenen, die nie von Pabst gedreht worden sind, und die Handlung wurde durch Umschnitte ziemlich verfälscht.

In Deutschland kamen nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Versionen des alten Films in Umlauf: In der DDR hatte man sich die Moskauer Fassung besorgt und die russischen Zwischentitel ins Deutsche rückübersetzt. In der Bundesrepublik wurde 1972 die Londoner Fassung eingedeutscht. In beiden Fällen handelte es sich also um fragwürdige Fragmente des Films.

Für die Münchner Fassung wurden alle drei bisher bekannten Auslandskopien benutzt. Als „Fahrplan“ diente das Originaldrehbuch von Willy Haas, das in München handschriftlich erhalten ist. Als nützlich erwiesen sich verschiedene Zensurakten aus den zwanziger Jahren und eine 8mm-Kopie des Pabst-Mitarbeiters Mark Sorkin, die in New York verwahrt wird.

Für die weitere Arbeit an der Rekonstruktion sind noch Nitrokopien der Library of Congress in New York und der Cineteca Nazionale in Rom in Aussicht. Mit diesen Materialien lassen sich wohl vor allem die Stücke verbessern, die in der vorliegenden Fassung technisch desolat sind.

Drei Aspekte, die bei der Rekonstruktion von nosferatu eine entscheidende Rolle spielten, blieben bei der freudlosen gasse ohne Einfluss auf die Arbeit:

Von den originalen Zwischentiteln sind weder die grafische Gestaltung noch die Texte überliefert. So blieb nichts anderes übrig, als die Zwischentitel der ausländischen Kopien rückzuübersetzen und mit Hilfe des Drehbuchs den Originaltiteln anzunähern.

Auch die freudlose gasse war ursprünglich ein viragierter Film, das heißt Szene für Szene monochrom eingefärbt. Es mag sein, dass zu einem späteren Zeitpunkt in München noch Überlegungen zur Farbe angestellt werden. Zunächst ist der Film schwarz-weiß, aber das hat keinen so entscheidenden Nachteil wie früher bei nosferatu.

Eine Originalmusik schließlich ist auch nicht überliefert. So kann man den Film mit improvisierten Stücken am Klavier begleiten, wie das auch heute geschieht.

Auf jeden Fall hat sich die mühsame Arbeit von Enno Patalas und seinen Mitarbeitern schon jetzt gelohnt. Wir sehen eine Kopie, die sich langsam an das einstmalige Original herantastet. Und Sie werden, so hoffe ich, jetzt 135 interessante Minuten erleben.

Hongkong, 23. April 1992