Ernst Lubitsch zum 100. Geburtstag

Eine Gratulationsrede in der Akademie der Künste

Meine Damen und Herren, liebe Gäste.

Bei der Feier eines 100. Geburtstages ist der Geehrte selten persönlich anwesend. In dieser Hinsicht haben wir es wenigstens mit einem Kompromiss zu tun. Er sieht zumindest so aus wie Ernst Lubitsch, ist aber – was Lubitsch ganz fremd war – stumm und unbeweglich. Eben ein Denkmal, geliehen aus dem „Notausgang“ von Gunther Rometsch, geschaffen von Jürgen Walter. Später, in sumurun, werden Sie Lubitsch auch in Bewegung sehen, allerdings ohne Stimme und im Alter von 28 Jahren. Die Feier für einen Hundertjährigen in der Akademie der Künste bedeutet jedenfalls, dass er für seine Nachwelt lebendig ist.

Meine Rede zum Geburtstag hat fünf kleine Kapitel.

Januar 1892.

Eine Hausgeburt am 29. um 7 Uhr morgens in der Lothringer Straße 82 A. Drei ältere Geschwister gab es schon, als die Hebamme Johanna Francke beim Standesbeamten die Geburt eines Kindes männlichen Geschlechts anzeigte. Vorname: Ernst.

Die Eltern, der Mantel- und Kostümfabrikant Simon Lubitsch und seine Ehefrau Anna, waren mosaischer Religion. Simon, der Vater, geboren in der russischen Stadt Grodno, wuchs in Wilna auf, Anna, die Mutter, stammte aus Wriezen an der Oder. Die Lubitschs waren eine wohlhabende, jüdische Familie im Scheunenviertel, Berlin/Ecke Schönhauser. Wenn wir Ernst als Schauspieler in seinen frühen Filmen sehen, dann schließen wir – ein bisschen leichtfertig – aus den Geschichten und Figuren auf sein Leben in der Schönhauser Allee.

Bei Lubitsch muss man mit dem Realitätsbezug allerdings vorsichtig umgehen. Er hat ihn im Kino nicht gemocht. Auffallend ist aber, dass die Konfektionsbranche, in der er sich auskannte, oft die Stoffe liefert.

Aufsteigergeschichten werden erzählt, in denen Frechheit siegt. Rückschläge bleiben dabei nicht aus, aber ob Lubitsch nun Sally oder Moritz heißt – er ist ein Stehaufmännchen. Sein Auftreten eilt dabei seinen wirklichen Möglichkeiten immer voraus. Den Ausgleich schafft er durch Geschwindigkeit.

Lotte Eisner, die Filmhistorikerin, hat das als jüdischen Slapstick bezeichnet. Jüdisch mag daran auch sein, wie Autorität demontiert, wie Konvention außer Kraft gesetzt wird. Das geschieht mit vollem Risiko und körperlichem Einsatz – und schließt nicht aus, dass sich Lubitsch, der Anti-Held, auch selbst zum Gespött macht. Die Unverblümtheit, mit der das gezeigt wird, mag heute befremden. Da verstellt uns die Nonchalance des späten Lubitsch den Blick auf den frühen.

Januar 1919.

Wie geht das zusammen: die Politik und die Unterhaltung in jener Zeit? Am 12. Januar wird der Spartacus-Aufstand niedergeschlagen, am 15. Januar werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet, zwei Tage danach hat Lubitschs letzter Film, meyer aus berlin, am Nollendorfplatz Premiere. Draußen Bürgerkrieg und Wahlkampf – in den Kinos amüsiert man sich wie Bolle. Wenn das ein Tanz auf dem Vulkan war, dann hat das Kino zu diesem Tanz eifrig aufgespielt.

Lubitschs meyer-Film, erst kürzlich wiederentdeckt, spielt streckenweise am Abgrund. Sally, ein Gernegroß aus Preußen, soll sich in bayerischer Höhenluft kurieren. Da wird eine Watzmanntour in weiblicher Begleitung zum gefährlichen Ausflug. Es ist ja ein ganz eigenes Lachen, wenn man dabei zuschaut, wie jemand knapp und immer wieder dem Absturz entgeht. Bei Lubitsch passiert das nicht mit der choreographischen Eleganz wie bei Chaplin und nicht mit dem Kalkül wie bei Harold Lloyd. Die Fallhöhe – wir sind in den Alpen – ist trotzdem enorm. Was der Komödie fehlt, ist die Bodenlosigkeit. Lubitsch macht nicht ernst. Sally Meyer hat außer sich selbst keinen wirklichen Gegner, damals, 1919.

Dezember 1922.

Lubitsch ist 30 Jahre alt. Er hat in Deutschland fast 40 Filme gedreht. Er beherrscht jetzt alles: nicht nur die Komödie, auch das Melodram, den Historienfilm, das Kammerspiel. Er hat die größten Statistenheere dirigiert und die leisesten Liebesszenen inszeniert. Was er nicht mag sind: Expressionismus und Innerlichkeit. Das führe nicht weiter, sagt er. Ihm geht es um Herausforderungen, nicht um individuelle Kunst. Deshalb macht er sich nach Amerika auf. Niemand konnte 1922 wissen, dass dies ein wirklicher Abschied war.

Januar 1935.

Lubitsch hat in Amerika inzwischen 17 Filme gedreht – für Warner Bros., Paramount, zuletzt für MGM the merry widow. Die klassischen Lubitsch-Komödien der dreißiger Jahre, deren Mehrzahl erst in den Siebzigern nach Deutschland kam und dann vorwiegend im Fernsehen gezeigt wurde, sind Kinodiamanten. Sie glitzern, von welcher Seite auch immer man sie anschaut, sie sind geschliffen in raffinierten Facetten: Preziosen, die gerade in diesen Tagen vielfältig beschrieben werden und zu bewundern sind.

Lubitsch steht 1935 in der Werteskala der amerikanischen Studioregisseure weit oben. Andererseits ist er gefährdet: the merry widow hat MGM viel Geld gekostet, aber die Amerikaner fanden die Witwe nicht so lustig. Geplante Projekte platzen, die Karriere gerät in eine Turbulenz. Drei Jahre lang dreht Lubitsch keinen Film.

Am 28. Januar 1935 wird ihm durch Veröffentlichung im Reichsanzeiger die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Auf dem Formular steht in einer Klammer „Personen jüdischer Abstammung sind durch Unterstreichen des Namens kenntlich zu machen.“ Ernst Lubitsch: unterstrichen. Jetzt lebt er im Exil, obwohl er kein Emigrant ist.

Für das deutsche Kino von 1933 an ist der Verlust unermesslich, nachdem seine jüdischen Künstler verjagt waren. Man sieht das den Filmen an, den Komödien vor allem. Sie haben ihre Ironie verloren, ihren antiautoritären, subversiven Witz. Dafür gibt es nun „Lustspiele“, die von der Lust eines Lubitsch ganz unberührt sind. Der Verlust ist nie verschmerzt worden.

Mai 1942.

Lubitsch ist 50 Jahre alt, in New York hat der Film to be or not to be Premiere. Den ersten Krieg hat Lubitsch zu Hause erlebt, den zweiten beobachtet er aus der Ferne. Aber mit einer Komödie reagiert er darauf – und macht ernst. Es geht wirklich um Sein oder Nichtsein. Wer eine beschreibende Analyse des Films lesen will, findet sie in Peter Naus Buch „Zur Kritik des politischen Films“. Ich will auf einen speziellen Aspekt hinaus: auf das Lachen. Der Film spielt in Warschau 1939. Dokumentarische Realität dringt aber nicht ein, kein Bild stammt aus der Wirklichkeit. Im Gegenteil: die Bühne ist wichtigster Ort der Handlung, also die Welt des Scheins. Zu ihr gehört auch das Leben hinter den Kulissen. Dieses gerät nach dem Einmarsch der Deutschen in Warschau aus den Fugen. Das Theater wird geschlossen – und die Schauspieler, die eigentlich ein Anti-Gestapo-Stück aufführen wollten, agieren plötzlich auf einer politischen Bühne, in einem realen Spionagefall der Gestapo. Sie bringen die Dramaturgie durcheinander, sie inszenieren, improvisieren und entkommen am Ende durch eine wahren Theatercoup.

Die Handlung ist genial und hanebüchen. Eine Hauptrolle spielen – wie so oft bei Lubitsch – die Türen. Hinter jeder kann es eine unangenehme Überraschung geben. Deshalb hält man ständig den Atem an – Suspense! – , befreit sich durch Lachen von der Spannung, erschrickt über eine neue Wendung und wird aufs neue getäuscht.

Dieses Spiel von Sein und Schein erhält eine zusätzliche Dimension durch unser Wissen vom brutalen Wirken der Nazis. Damit vergrößert sich noch einmal die Fallhöhe der Figuren, und das Lachen wird bodenlos. Keine andere Komödie von Lubitsch war einer solchen Zerreißprobe ausgesetzt, weil seine Geschichten sonst nie mit bitterer Wirklichkeit zu tun hatten.

Ich denke, dass der Film die Katastrophe einbezieht, aber nicht im Schrecken verharrt. Er trotzt dem Schicksal ein Stück Befreiung ab, und er tut dies gewiss nicht auf Kosten der Opfer.

Paul Virilio weist in seinem Essay „Krieg und Kino“ darauf hin, dass Lubitsch einen ernsthaften und hintergründigen Kriegsfilm gedreht habe, der sogar einiges von der Philosophie der alliierten Geheimdienste verriet. So habe die englische Führung ihre Ideen manchmal tatsächlich von Shakespeare bezogen. Virilio nennt als Beispiel „Macbeth“ und die Schlacht von El Alamein.

Und er erinnert daran, dass in wichtigen Phasen des Krieges Doubles von Churchill und führenden Militärs Flugreisen zu frei erfundenen Zwecken unternahmen. Das Verhältnis zwischen Schauspielern und Politikern in to be or not to be, das groteske Verwechslungsspiel habe also durchaus eine Entsprechung in den Kriegslisten, die die Alliierten entsannen, um Hitler und den deutschen Generalstab hinters Licht zu führen. Damals, 1942, verbinden sich bei Ernst Lubitsch Witz und Weltgeschichte. Mit Sicherheit war ihm dabei nicht zum Lachen zumute.

In to be or not to be gibt es freilich auch einen Satz, in dem die ganze Philosophie von Ernst Lubitsch enthalten ist. Weniger aus Patriotismus, denn aus Eifersucht tötet der Schauspieler Tura den Spion Siletzki, um dem Verhältnis seiner Frau zu dem Fliegerleutnant Sobinski ein Ende zu setzen. Den hat er nämlich – welch eine Unverfrorenheit – in seinen Hausschuhen angetroffen. Turas Motiv: „Ich liebe mein Land, und ich liebe meine Hausschuhe.“

Damit bin ich am Ende dieser Geburtstagsrede – ich spreche also nicht über seinen Tod. Nehmen wir doch einfach an: Er hat 1947 nur aufgehört zu arbeiten. Seine Filme sind zu sehen. Wir lieben diese Filme. Wir gratulieren ihm zum 100. Geburtstag. Ernst Lubitsch.

Berlin, Akademie der Künste, Studio am Hanseatenweg, 29. Januar 1992