Das Jahr 1945

Vorwort zum Katalog der Retrospektive

 

Was war das für ein Jahr!

An seinem Ende standen die Kriegsverbrecher in Nürnberg vor Gericht, und es wurde bitter kalt in Deutschland. Im Sommer hatten die Amerikaner in Hiroshima und Nagasaki mit zwei Atombomben auf ihre Weise für das Kriegsende gesorgt. In Potsdam und zuvor in Jalta war Deutschland von den Großmächten in Einflusssphären aufgeteilt worden. Mit der Kapitulation endete das Deutsche Reich – der Nazitraum von der Weltherrschaft war schon vorher ausgeträumt. Befreiung vom Faschismus: In Deutschland wurde sie vor allem als Niederlage empfunden. Die letzten vier Kriegsmonate hatten noch unfassbare Menschenopfer gefordert. Sinnlos erscheint uns heute all das Sterben für das Vaterland – am sinnlosesten 1945, als es nichts mehr zu verteidigen gab.

Tote, Vermisste, Verwundete, Gefangene, Flüchtlinge, Ruinen, Hunger, Not, Elend, Angst, An dieses Jahr zu erinnern ist Trauerarbeit, weil auch im Jubel der Sieger die Erschütterung über die Opfer mitzuhören ist.

Der Zweite Weltkrieg hat als „Vernichtungskrieg“, viel radikaler als der Erste, den Menschen die Macht der Kriegstechnologie demonstriert. Deren Gewalt, ausgeübt mittels aller Waffengattungen, dirigiert von verführender Ideologie, kam 1945 in einer konsequenten Gegen-bewegung in das Land zurück, das den Krieg begonnen hatte. Die Totalität dieses Krieges ist in seiner letzten Phase kaum noch begreifbar. In den Zahlen von Toten, Vermissten, Verwundeten, Gefangenen ist die individuelle Dimension ausgelöscht. Unter den Tonnen abgeworfener Bomben wurde auch das einzelne Leiden begraben.

Wenn das überhaupt möglich ist, geben Filme eine Ahnung von dem, was 1945 geschah. Sie bringen Vorgänge nicht auf einen Begriff, sie messen sie nicht in Zahlen, sie überliefern Bilder. Bis zur Lächerlich-keit ist die Filmtechnologie dabei der Kriegstechnologie unterlegen, sie kann nicht einmal die originalen, synchronen Töne wiedergeben. Aber sie gibt eine Anschauung von der Gewalt dieses Krieges. Und das ist wichtig, auch heute noch, gerade jetzt.

„Europa 1939“ hieß unsere Retrospektive 1989: Filme aus dem Jahr, in dem Hitler den Krieg vom Zaun brach. Als Konsequenz hatten wir das nachfolgende Thema von Anfang an mitgeplant: „Das Jahr 1945“: Kriegsende/Zusammenbruch/Niederlage/Befreiung. Was vor einem Jahr niemand ahnen konnte: wie die politische Entwicklung in Europa unsere historische Fragestellung aktualisieren würde. Plötzlich sind der Stalinismus, die Teilung Deutschlands, die Macht der Alliierten und die Folgen des Jahres 1945 Themen des Tages. Und in die politische Phantasie, die fast bedrohlich explodiert, dringen schon wieder nationalistische Träume ein, die doch als ausgeträumt galten. Geschichtsunterricht ist notwendig, Erinnerungsarbeit.

In den Bildern, in den Tönen der Filme von 1944-45-46, die unsere Retrospektive versammelt, ist etwas aufgehoben vom Denken und Fühlen, von den Fakten und Fiktionen jener Jahre, was nicht in Büchern oder Zeitungsberichten zu finden ist: Gesten, Blicke, verzweifelte Schreie, Momente der Ruhe, Angst, ein befreites Lachen, rauchende Ruinen, Krachen, Sterbende, Tote.

Und geträumte Illusionen: die Geschichten jenseits der realen Zeit, wie sie das Kino immer erzählt, und die etwas verraten über die Sehnsüchte damals, 1945. Das sind dann die scheinbar friedlichen Bilder, in denen geflirtet und geliebt wird, in denen die Häuser unzerstört und die Tische reich gedeckt sind. In denen Geigen erklingen, Kinder spielen und Lichtreflexe von einem schönen Gesicht ausgehen.

Der Umgang mit Filmbildern ist Spurensuche. Man muss sich beim Entziffern der Filme schon etwas Mühe geben, die Ränder beachten, nicht nur auf die Mitte der Bilder schauen. Es gehört dazu, die Filme untereinander in Beziehung zu setzen, Motive zu verfolgen, sich von Momenten ergreifen zu lassen und doch den Überblick zu behalten. In einem so umfangreichen Filmprogramm kann man sich leicht verirren.

Wir haben etwas Ordnung geschaffen, sechs Reihen gebildet und den Verlauf strukturiert: filmisch, geographisch, chronologisch. Wir haben ausgewählt unter einer doppelten Anzahl von Filmen. Das Anschauen, Diskutieren und Aussuchen war für die Beteiligten eine sehr produktive Zeit, denn es lag im Herbst 1989 nahe, die Filme in einer Verbindung zu dem zu sehen, was um uns herum passierte. Aber es war uns wichtig, sie als Filme zu sehen, also nicht als Material, um etwas zu beweisen.

Dies war auch eine Vereinbarung mit den Autoren: sich auf den einzelnen Film einzulassen, ich nicht zwanghaft in einen Zusammenhang zu stellen. Neben der Auswahlgruppe haben sich 33 Autoren mit Beiträgen an dieser Publikation beteiligt: Filmkritiker, Filmhistoriker, Filmemacher. Aus der Verschiedenartigkeit ihrer Texte ergibt sich ein neuer Zusammenhang: wie über Film im Herbst 1989 nachgedacht und geschrieben wird. Über alte Filme, von 1945, und über Filme danach.

1989, das Jahr, in dem diese Retrospektive vorbereitet wurde, war auch ein Jahr persönlicher Verluste. Am 14. August starb Florian Hopf. Er arbeitete für die Kinemathek an einem Artur Brauner-Porträt, das er nicht mehr fertig stellen konnte. Er war ein eigenwilliger Autor. Wir haben uns gemocht. Florian war fünfzig Jahre alt. Am 15. Oktober starb Wolfgang Linke, Verwaltungsleiter der Filmfestspiele und Stellvertreter von Moritz de Hadeln. Er hat zehn Jahre lang die Retrospektive der Kinemathek gefördert und mit kritischer Zuneigung begleitet. Er war ein enthusiastischer Gesprächspartner. Wir werden ihn nicht vergessen. Am 12. Dezember starb Dr. Heinz Rathsack, Vorstand der Stiftung Deutsche Kinemathek und Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Ich habe zwanzig Jahre mit ihm zusammengearbeitet.

Wir blicken mit unserer Retrospektive zurück ins Jahr 1945. Das war vor 45 Jahren. Als Rainer Werner Fassbinder und Wim Wenders geboren wurden. Das ist lange her. Seither hat sich viel geändert.

Wirklich?

Vorwort. Das Jahr 1945. Filme aus fünfzehn Ländern. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek 1990.