Texte & Reden
21. Dezember 1978

Der starke Ferdinand

Text für die Frankfurter Rundschau

EMDEN GEHT NACH USA – eine Dokumentarfilmserie von Klaus Wildenhahn und Gisela Tuchtenhagen

Ferdinand Dirks, gelernter Maurer, verheiratet, sechs Kinder, arbeitet seit 1964 bei VW Emden, Ostfriesland. Er ist seit vier Jahren Vorsitzender der Vertrauenskörperleitung bei VW. Arnold Saathoff, auch gelernter Maurer, verheiratet, drei Kinder, ist Betriebsrat bei VW Emden und gehört der Vertrauenskörperleitung an. Heinz Pakull und Hermann Spieker, Bandarbeiter, sind Vertrauensleute bei VW. Elisabeth Kirchhoff und Hanne Harms sind Betriebsrätinnen bei VW. Jan Wiltfang, gelernter Schlosser und Werftarbeiter, ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall, Verwaltungsstelle Emden. Ferdinand D., Arnold S., Heinz P., Hermann S., Elisabeth K., Hanne H., Jan W. sind Protagonisten der Dokumentarfilmserie EMDEN GEHT NACH USA von Klaus Wildenhahn und Gisela Tuchtenhagen. In zunächst vier Filmen von je einer Stunde kommen Ferdinand und seine Kollegen zu Wort. Die Filme zeigen aus ihrer Perspektive ihre Situation bei VW und der IG Metall in Emden.

In den Filmen ist auch zu sehen: Toni Schmücker, Vorstandvorsitzender bei VW. Seine Situation, seine Perspektive kommen hier allerdings einmal zu kurz. Sie werden, denke ich, in anderen Sendungen des Fernsehens auch genügend oft verbreitet.

Klaus Wildenhahn und Gisela Tuchtenhagen haben im Sommer und Herbst 75 Auswirkungen der Strukturkrise in der Automobilindustrie beobachtet. Konkret. Sie haben Aktionen und Reaktionen von Arbeitern, besonders von Vertrauensleuten, bei VW Emden aufgenommen, als es um die Errichtung eines Zweigwerkes in den USA geht. In Emden wird vor allem für den Export produziert. Deshalb sehen die Emdener Arbeiter in den USA-Plänen eine Gefährdung ihrer Arbeitsplätze. Für den Betriebsrat und die Gewerkschaft, die im Aufsichtsrat von VW Sitz und Stimme haben, ergeben sich symptomatische Konflikte, weil die Interessen der Emdener Arbeiter nicht mit den Interessen der Unternehmungsführung zu vereinbaren sind (auch wenn Toni Schmücker behauptet, es seien identische Interessen). Genau dort, an den Konflikten der gewählten Arbeitnehmervertreter und der gewaltigen Arbeitnehmerorganisation, setzen die Filmemacher an. Sie gehen dabei dokumentarisch vor; das heißt: empirisch, beobachtend und darauf vertrauend, daß sich ohne arrangierende Eingriffe die Situation ihrer Protagonisten dem Zuschauer mitteilt.

Betriebsrat, Gewerkschaft, Interessenkonflikte, Ostfriesland, dokumentarisch, empirisch – das hört sich vielleicht nach sprödem „Kulturfilm“ an. Die vier Filme sind jedoch ungemein spannend, sie aktivieren Gefühle, sie haben unterhaltsame Aspekte und man kann viel aus ihnen lernen.

Film 1, „Abbauen, Abbauen“, entwirft entwirft ein Porträt von Ferdinand Dirks, einer starken, selbstbewußten Figur im Vertrauenskörper von VW. Ferdinand ist ein idealer Protagonist, weil er ohne jede Funktionärsallüre die Interessen seiner Kollegen vertritt. Seine Sprache ist kraftvoll, sein Verhalten macht ihn zu einer Identifikationsfigur. Über ihn setzen sich innergewerkschaftliche Konflikte in Gang, als nach den Werksferien im Sommer 75 die USA-Pläne akut werden.

Im Film 2, „Wir können so viel“, beschließt die IG Metall, für Ostfriesland eine Kundgebung gegen die Arbeitslosigkeit zu veranstalten. Der günstigste Termin dafür und die Aktivierung der Teilnehmer werden beraten. Gleichzeitig entstehen im VW-Werk Spannungen, weil – ein halbes Jahr nach Massenentlassungen – durch steigende Nachfrage nach Autos Sonderschichten notwendig werden. Den Filmemachern wird in dieser Situation die Drehgenehmigung für das Werksgelände entzogen.

Der Film 3, „Voll rein“, zeigt, wie der Gewerkschaftsapparat zur Vorbereitung der Kundgebung läuft. Flugblätter werden verteilt, Plakate geklebt. Die Werksleitung will Lautsprecherankündigungen vor dem Werktor polizeilich verhindern. Der 1. Bevollmächtigte der IG Metall, zunächst der Typ des Abwieglers und Vorsichtlers, engagiert sich für die Kundgebung gegen die Werksleitung und wird damit sozusagen an die Basis zurückgeholt. Ein exemplarischer Vorgang.

Im Film 4, „Und nun kommst du“, findet Mitte September 75 die Protestkundgebung der IG Metall vor dem Emdener Rathaus statt. Die Veranstaltung ist ein nur mäßiger Erfolg. Ihre Vorbereitung und ihr Verlauf werden an den folgenden Tagen kritisiert. Die Beteiligten (und die, die nicht hingegangen sind) können aus der Kritik lernen. Nachspiel: Toni Schmücker verkündet am 23. April 76 die Errichtung eines Zweigwerkes in den USA.

Das ist der Ablauf der ersten vier Filme, die fertiggestellt sind und ab 25. Dezember im III. Weihnachtssonderprogramm der Nordkette und des WDR zu sehen sein werden. Doch damit ist dieses außergewöhnliche Filmunternehmen noch nicht beendet. Wildenhahn/Tuchtenhagen montieren zur Zeit einen fünften Film, „Im Norden das Meer / Im Westen der Fluß / Im Süden das Moor / Im Osten Vorurteile“, der Mitte Januar in den III. Programmen des WDR und der Nordkette ausgestrahlt wird. Es soll ein „poetischer“ Film werden, in dem dokumentarisches Material durch einen subjektiveren Zugriff der Filmemacher zu einem essayistischen Produkt verdichtet wird (in der Filmgeschichte stehen dafür Namen und Werk von Dsiga Wertow und Chris Marker). Im „poetischen“ Film wird ein Bogen von der Geschichte Ostfrieslands (Landarbeit, Industrialisierung, Werften, VW) zu einer Zukunftsperspektive (Bildungsarbeit der IG Metall) geschlagen. Bildungsarbeit hat dabei freilich nichts mit bürgerlicher Berufsqualifizierung zu tun. Sie meint im gewerkschaftlichen Zusammenhang: Auseinandersetzung mit der Realität in den Betrieben und wie man dort Konflikte meistert. Der „poetische“ Film (Länge: etwa 75 Minuten) ist ein Produkt der Fernsehspielabteilung des NDR.

Auf der Wegstrecke des Emden-Projekts ist noch eine weitere Station eingeplant: den dokumentarischen Filmen und dem poetischen Film soll schließlich noch ein Fernsehspiel folgen – realisiert allerdings nicht Wildenhahn/Tuchtenhagen, sondern von einem Autor und einem Regisseur, die an der dokumentarischen Phase als Beobachter teilnehmen sollten oder zumindest von deren Ergebnissen nutznießen können. Die Absicht war, verschiedene formale Möglichkeiten des Mediums Film an einem Generalthema zu erproben. Der Dokumentarist kennt die Grenzen seiner – empirischen – Methode, der Spielfilmmacher hat andere Chancen (was nicht heißt: da finde prinzipiell ein qualitativer Sprung statt). Der Hamburger Autor Hubert Wiedfeld hat die Arbeit von Wildenhahn/Tuchtenhagen begleitet und entwickelt jetzt aus seiner Recherche das Drehbuch für einen Fictionfilm. Die Sicherheit, daß etwa der NDR daraus ein Fernsehspiel machen wird, hat er allerdings nicht. Er ist ein „freier“ Autor, also nur ein Anbieter.

Klaus Wildenhahn, festangestellt beim NDR-Fernsehspiel, ist seit Jahren der konsequenteste Dokumentarist in der Bundesrepublik. Er fordert, „daß Dokumentarfilm eine Plattform für jene sein muß, die sonst nicht zu Wort kommen, daß Dokumentarfilm jene reden lassen muß, die sonst nicht an Diskussionen teilnehmen, und zwar in einer Sprache, die sonst nicht gehört wird im Medium“ (so Wildenhahn in seinem Buch „Über synthetischen und dokumentarischen Film“, inzwischen bereits in einer zweiten Auflage beim Frankfurter Kommunalen Kino erschienen). Diese Forderung hat Wildenhahn erfüllt in seinen Filmen IN DER FREMDE (1967), HEILIGABEND AUF ST. PAULI (1968), DER REIFENSCHNEIDER UND SEINE FRAU (1968), DER HAMBURGER AUFSTAND OKTOBER 1923 (1971) und DIE LIEBE ZUM LAND (1973/74, zweiteilig). Dazwischen hat Wildenhahn Mittelständisches dokumentiert: Wissenschaftler im INSTITUTSSOMMER (1969), Redakteure in DER TAGESSPIEGEL (1970/71), Pastoren in HARBURG BIS OSTERN (1972), Fernsehmacher in DER MANN MIT DER ROTEN NELKE (1975).

Anders als die gefälligeren, glatteren Filme von Eberhard Fechner oder Rolf Schübel (auch sie gelten als Dokumentarfilme), haben Wildenhahns Filme Unebenheiten, Kanten, stilisti­sche Öffnungen, die sich aus ihrer Methode ergeben: Wildenhahn, der selbst den Originalton aufnimmt, vermeidet jeden inszenatorischen Eingriff, benutzt kein künstliches Licht, interessiert sich nicht für Statements, sondern fängt Stimmungen, Gespräche, Alltagsverhalten ein. Es gibt in seinen Filmen wenig Interviewsituationen. Dafür gibt es Momente, die im Fernsehen selten sind: Gesprächspausen, Versprecher, Spontaneitäten.

Wildenhahn arbeitet seit Jahren mit Kameraleuten zusammen, die nicht von Fernsehroutine geprägt sind. Wie schon beim MANN MIT DER ROTEN NELKE hat bei den Emden-Filmen Gisela Tuchtenhagen die Kamera geführt: eine atemberaubend gute Arbeit, wie stets bei Wildenhahn in Schwarzweiß, wobei noch aus den ungünstigsten Drehsituationen – Busfahrten mitten in der Nacht, Plakatkleben bei stürmischem Wind, Schweineschlachten im dunklen Stall – intensive Bilder gewonnen wurden. Die Filme zeigen keine Arbeitsvorgänge (das war eine Abmachung mit dem VW-Konzern, der die Dokumentaristen bald auch aus dem Betriebsratsbüro hinaustrieb). Aber diese Aussparung gerät den Filmemachern zu einem Vorteil: durch ihre Produktionsbedingungen zu filmischen Ellipsen gezwungen, holen sie sich die Stimmung der Belegschaft anderswo – in den Bussen, die zahlreiche VW-Arbeiter zum Schichtdienst ins Werk bringen und am Feierabend wieder nach Hause. Diese Fahrten, die alle vier Filme rhythmisch bestimmen, reflektieren auf besondere Weise die Atmosphäre im Werk und verweisen gleichzeitig auf das geographische Umfeld: die Weite Ostfrieslands. Daß schließlich Ferdinand, Arnold und seine Kollegen durch den dokumentarischen Gestus der Bilder und eine präzise darauf abgestimmte Tondramaturgie in den Filmen die Stärke entfalten können, die sie auch in ihrer realen Situation haben, ist jeder Glücksfall, der sich vom Dokumentaristen nur als Resultat harter Arbeit herstellen lässt.

Frankfurter Rundschau, 21. 12. 1978