Texte & Reden
03. September 1978

Dokumentarfilm: Gegeninformationen

Text für das Jahrbuch Film 78/79

Notizen zu neuen Dokumentarfilmen aus der Bundesrepublik und zu deutschland im herbst

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Duisburg 1976-77. Im Stadtteil Homberg-Hochheide kämpft eine Bürgerinitiative um den Erhalt der Rheinpreußensiedlung. 600 preiswerte Wohnungen einer traditionsreichen Arbeitersiedlung sollen abgerissen werden. Der Dokumentarfilm gegen spekulanten von Klaus Helle, Florence Kraak und Bernd Segin schildert die Erfahrungen der Bürgerinitiative mit kommunalen Politikern und zeigt die Solidarität, aber auch die Konflikte der betroffenen Bewohner. Ein Film über Sanierungspolitik, ein Film über Bürgerinitiativen.

Essen, Sommer 1977. Im Berufsförderungszentrum lassen sich arbeitslose Frauen umschulen. Sie lernen Männerberufe. Nach zwei Jahren Ausbildung können sie zum Beispiel einen Abschluss als Metallfacharbeiterin machen. Der Dokumentarfilm sing, iris – sing von Monika Held und Gisela Tuchtenhagen zeigt die Situation von vier Frauen und ihre Schwierigkeiten: beim Lernen, im Umgang mit der Technik, untereinander, im Privatleben. Ein Film über Frauen, auch ein Film über Arbeitslosigkeit.

Hannover 1976-77. Seit fünf Jahren gibt es an der Glocksee-Schule einen Modellversuch für alternative Lernformen. Die Kinder der Grund-schulklassen können dort ihre Interessen in relativer Freiheit zur Geltung bringen. Der Film lernen ohne zwang von Günther Hörmann dokumentiert die Situation der Kinder in verschiedenen Schulklassen und die Erfahrungen von Lehrern, Eltern und Wissen-schaftlern. Ein Film über Erziehung.

Köln, Sommer 1977. Nach zweijähriger Untersuchungshaft wird der Arzt Karl-Heinz Roth von der Anklage des gemeinschaftlich begangenen Mordes an einem Polizisten freigesprochen. Roth war bei einer Polizeikontrolle im Mai 75 im Verlauf einer von der Polizei begonnenen Schießerei schwer verletzt worden, ein Polizist und der als Terrorist gesuchte Werner Sauber kamen ums Leben. Der Film zwei protokolle zeigt Bilder aus einer modernen Haftanstalt in der Bundesrepublik. Karl-Heinz Roth schildert Erfahrungen einer über zwanzigmonatigen Isolationshaft. Ein Film über Strafvollzug.

Hannover, Frühjahr-Sommer 1977. Der Schriftsteller Günter Wallraff arbeitet fast fünf Monate unerkannt unter falschem Namen in der Lokalredaktion der BILD-Zeitung. Seine Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitet er in einem Buch („Der Aufmacher – Der Mann, der bei Bild Hans Esser war“) und in einem Film, den Jörg Gfrörer realisiert hat: informationen aus dem hinterland. Es ist ein Film gegen die Mediensituation in unserem Land.

Deutschland (Bundesrepublik), Herbst 1977. Hanns Martin Schleyer, Präsident der Interessenverbände der Arbeitgeber und der Industrie, wird entführt und nach sechs Wochen umgebracht; eine Lufthansa-Maschine mit 87 Insassen wird in Mogadischu von westdeutschen Spezialeinheiten aus Terroristengewalt befreit; im Gefängnis in Stammheim sterben drei Anarchisten: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe – die offizielle Diagnose heißt Selbstmord. Der Film deutschland im herbst, eine Gemeinschaftsarbeit von Alf Brustellin, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé/Hans Peter Cloos, Volker Schlöndorff und Bernhard Sinkel, gibt als Collage aus Spielszenen und dokumentarischen Impressionen ein Stimmungsbild jener Wochen in der Bundesrepublik. Es ist ein Film über Hysterie, Angst und Ratlosigkeit.

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Zwischen diesen sieben Filmen, die sich alle mit der Realität der Bundesrepublik auseinandersetzen, lassen sich zunächst einige Zusammenhänge herstellen. Es handelt sich um Dokumentarfilme beziehungsweise um Filme mit dokumentarischen Passagen. Es handelt sich um Filme mit dem Anspruch „Gegeninformationen“ zu liefern – das heißt: Informationen, die in der offiziellen Bericht-erstattung falsch, gar nicht oder jedenfalls nur unproportioniert vorkommen. Es handelt sich schließlich um Filme, die „alternativ“ produziert worden sind. Dokumentarfilm ist immer nur ausnahms-weise Gegenstand veröffentlichter Reflexion; zum einen, weil er in unseren Kinos eigentlich nicht vorkommt (oder nur in der Perversion eines hitler-Films), zum anderen weil er im Fernsehen, wo er vorkommt, verdeckt wird von massenhaften, genormten Berichter-stattungen und Features. Nur ein paar alternative Kinos respektieren das Genre und pflegen seine Tradition.

Wilhelm Roth hat im „Jahrbuch Film 77/78“ Tendenzen des internationalen Dokumentarfilms beschrieben: „Essay und Chronik“ (S. 27-40). Ich füge dem heute Notizen zu einigen bundesdeutschen Dokumentarfilmen hinzu und verweise auf einen Zusammenhang, der sich durch Roths Darstellung der Arbeit des Dokumentaristen Klaus Wildenhahn ergibt. Wildenhahns Filme und seine Abhandlung „Über synthetischen und dokumentarischen Film“ definieren weitgehend meine Position zum Dokumentarfilm. Aus dieser Perspektive notiere ich also.

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gegen spekulanten, 87 min., 16mm, schwarzweiß.

Ein Hungerstreik vor dem Rathaus in Duisburg hat die Bewohner der Zechensiedlung Rheinpreußen 1977 in die Schlagzeilen gebracht. Mehrere Tage und Nächte hielten Mitglieder einer Bürgerinitiative die Stellung auf den Rathaustreppen, informierten Passanten über ihre Situation (beabsichtigter Abriss der Häuser, Umsetzung in Wohnsilos) und drängten die Politiker, die ins Rathaus strebten, zu Meinungs-äußerungen. In einer „Vor-Ort“-Sendung (hungerstreik in duisburg) hat der WDR diese Aktion veröffentlicht: das war eine unausgewogene, parteiliche Reportage von bewegender Intensität – journalistische Basisarbeit, die 1978 mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold ausgezeichnet wurde.

Der Dokumentarfilm gegen spekulanten zeigt ausführlich und genau die Situation in der Bergarbeitersiedlung, die zur Gründung der Bürgerinitiative und schließlich zum Hungerstreik geführt hat. Anders als die „Vor-Ort“-Reporter, die ihr Material in aktueller Zuspitzung aufzunehmen hatten, konnten sich die Dokumentarfilmer Helle/Kraak/ Segin Zeit lassen: fast ein Jahr lang haben sie die Entwicklung der Bürgerinitiative beobachtet, ein weiteres Jahr an der Montage des umfangreichen Materials gearbeitet.

Der Film lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Verhältnis der Siedlungsbewohner zueinander: wie sie miteinander umgehen, welche Stimmungen und Spannungen untereinander herrschen, was für eine Solidarität möglich ist. Er zeigt das Verhältnis der Bewohner zur Obrigkeit: zu Kommunalpolitikern und Rathausbürokraten, er zeigt ihre Enttäuschung, ihren Widerstand, macht begreifbar, warum es „Grüne Listen“ gibt. Er zeigt offiziöse Ereignisse (Sitzungen, Versammlungen, Demonstrationen), Aktionen (Hausbesetzung, Hausabriss) und Inoffiziöses: Alltag, ein Fest, Nachbarschaftshilfe.

Das ist in den mittellangen, normierten Fernsehberichten kaum üblich: dass geduldig zugehört wird, dass auch das scheinbar Nebensächliche, das Alltägliche aufgenommen wird, dass ernst genommen wird, wo einfachen Leuten der Schuh drückt. Eben da setzen Dokumentarfilme an und liefern ihre Gegeninformationen. Inhaltlich und ästhetisch. Sie holen sich Nachrichten von einer Basis, die sonst direkt kaum zu Wort kommt („Vor-Ort“-Sendungen sind bei uns in jeder Hinsicht Ausnahmen).

Auch Helle/Kraak/Segin verlassen sich weitgehend auf Beobachtungen des Spontanen, sie zeigen Menschen in ihrem „kollektiven Zusammen-hang“: in ihrem Zusammenleben und in der Wahrnehmung ihrer gemeinsamen Interessen. Vor allem durch die Wohnsituation sozial verbunden und durch Angriffe auf dieses Fundament bedroht, entfalten die Bewohner der Rheinpreußensiedlung – Frauen und Männer, Deutsche und Ausländer, junge und alte Menschen – erstaunliche Kräfte. Ihre Sprache, ihr Gefühl, ihre Moral fließen ins Material des Films ein, ohne durch Kommentare der Filmmacher relativiert zu werden. Zusätzliche Kommentare sind sparsam verwendet, erklären nur faktische Zusammenhänge, die anders nicht zu vermitteln wären. Eigentlich überflüssig sind die Passagen, in denen die Gegner der Bürgerinitiative, etwa der mit dem Gelände spekulierende Bankdirektor, zu Wort kommen. Ihr Entlarvungscharakter ist oberflächlich. Die Kürze des Films – knapp 90 Minuten – hat leider auch zum Verzicht auf viele Nebenbeibeobachtungen geführt, die im Material durchaus vorhanden waren. Aber in der Darstellung der Konflikte am Ort gewinnt der Film eine große Intensität, die sich auch differenzierten politischen Fragestellungen gewachsen zeigt.

Rückverweis: Klaus Helle, einer der Filmmacher von gegen spekulanten, hat 1974/75 zusammen mit Johannes Flütsch und Marlis Kallweit flöz dickebank realisiert, einen exemplarischen Dokumentarfilm über die Bedrohung einer Zechensiedlung in Gelsenkirchen, der sich ganz auf die Kraft seiner betroffenen Protagonisten stützen konnte.

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sing, iris – sing, 89 min., 16mm, schwarzweiß

Im August 77 starb Elvis Presley. Fans in aller Welt haben um ihn getrauert. Iris, 21 Jahre alt, verheiratet, wohnhaft in Essen, ist ein Elvis-Fan. In dem Dokumentarfilm sing, iris – sing gibt es eine Szene, in der Iris ein Elvis-Lied hört: „Are You Lonesome Tonight“. Die Kamera ist zunächst auf dem Gesicht von Iris, schwenkt dann langsam in das Zimmer, in dem Iris auf dem Boden sitzt. Die Kamera denunziert dabei in keinem Moment das kleinbürgerliche Interieur der Wohnung, sie reproduziert eine Stimmung, lässt sich von einem melodischen Gefühl führen. Die Szene dauert etwa so lange wie das Lied. Es ist eine „arrangierte“ Szene, sie ist aber sehr schön.

Die Szene steht in einem Zusammenhang. Der Film sing, iris – sing dokumentiert die Situation von vier Frauen, die sich in einem Modell-lehrgang in Essen in so genannten Männerberufen ausbilden lassen. Iris, vorher ungelernte Arbeiterin und arbeitslos, hat im August 77, als der Film gedreht wurde, neun Monate Schulung hinter sich. Sie lernt schwer, sie hat auch zuhause Probleme. Die „Elvis-Szene“ ist einge-bettet in sechs andere Szenen mit Iris: Beobachtungen in der Lehrwerk-statt (auch hier im Hintergrund, O-Ton, das Elvis-Lied), ein Kantinen-gespräch mit Iris über ihre Ehe, Beobachtungen im Unterricht, Gespräche mit Mitschülerinnen, eine Aussprache in der „Quatschstunde“ (das ist eine wöchentlich organisierte Zusammenkunft, um persönliche Schwierigkeiten zu bereden), noch einmal: Unterricht. Dann wendet sich der Film einer anderen Frau zu. Am Ende des Films heißt es: „Iris musste ins Krankenhaus. Danach hat sie es nicht mehr geschafft. Jetzt ist sie wieder Arbeiterin. Iris sagt: ‚Dieses eine Jahr zusammen mit den anderen war unheimlich schön. Das kann mir keiner mehr wegnehmen.“

Die Szenen mit Iris fügen sich zu einem Porträt, das ohne Abfragen, ohne den normalen journalistischen Zugriff entstanden ist, einfach durch geduldige Beobachtung. Einfach? Das Vertrauen der Dokumen-tarfilmer darauf, dass sich gerade in den Alltagssituationen Menschen mit ihren Konflikten darstellen lassen, ist Teil einer Arbeitsleistung. Insofern ist das Einfache eben das Schwierige, weil Aufmerksamkeit, Sensibilität, Mut und technisches Handwerk sich als Haltung koordi-nieren müssen, um die Voraussetzung für ein gutes dokumentarisches Produkt zu schaffen. Das aufgenommene Material und seine Montage bringen dann – und das scheint mir die wesentliche Qualität dokumen-tarischer Filmarbeit zu sein – die Kraft und auch die Schwächen benachteiligter Menschen so zur Geltung, dass sich beim Zuschauer Achtung, Respekt, ein Gefühl der Zuneigung und gleichzeitig ein Erkennen konkreter Ursachen für gesellschaftliche Widersprüche herstellen können.

Rückverweis: Gisela Tuchtenhagen, die den Film sing, iris – sing zusammen mit Monika Held realisiert hat, war bei den Filmen die liebe zum land (zweiteilig), der mann mit der roten nelke und emden geht nach usa (fünfteilig) Partnerin von Klaus Wildenhahn. Als Cutterin beziehungsweise als Kamerafrau und als Co-Autorin hat sie sich Erfahrungen, Fähigkeiten und Standpunkte angeeignet, die sie nun in einem eigenen Film produktiv machen konnte. Es ist wichtig, sing, iris – sing nicht als punktuelles, voraussetzungsloses Ereignis zu sehen; gerade dokumentarische Arbeit ist darauf angewiesen, in Zusammenhängen begriffen zu werden.

Querverweis: sing, iris – sing ist ein Dokumentarfilm von Held/Tuchtenhagen zum Thema. Es gibt auch ein Feature: mutter ist schlauer geworden, 45 Minuten lang, für eine andere Redaktion angefertigt, knapper und normierter in der Montage, aus dem dokumentarischen Material kondensiert. Es ist ein Feature noch von der anständigeren Art, ohne ausgewogene Statements und frei von beliebigen Bildarrangements. Aber ein Stück von Iris und mehr ist abhanden gekommen.

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lernen ohne zwang, 75 min., 16mm, Farbe.

Der Lehrer Marco in Alain Tanners jonas-Film vermittelt seinen Schülern mit einer gigantischen Blutwurst, die er in Stücke schneidet, einen dialektischen Geschichtsbegriff, und der arbeitslose Drucker Mathieu realisiert für kurze Zeit seinen Traum von einer zwangsfreien Schule im Sinne Rousseaus. Spielfilmutopien?

In der Bundesrepublik gibt es seit etwa zehn Jahren neue Vorstellungen von Erziehung. Es gibt Reformen (Gesamtschule) und radikalere Alternativen. Im Herbst 72 begann zum Beispiel in Hannover der so genannte Schulversuch Glockensee, ein Grundschulprojekt, bei dem die Kinder ohne Disziplinierung und Leistungsdruck, mit Spaß und Eigeninitiative lernen können. Kein Stundenplan, keine „Fächer“, keine Zensuren. Praktische und theoretische Fähigkeiten sollen sich in Projekten entwickeln.

Der Dokumentarfilm lernen ohne zwang bilanziert den Schulversuch im fünften Jahr: wie lernen die Kinder, wie ist ihr soziales Verhalten, welche Erfahrungen haben die Lehrer und die Eltern gemacht? Die Diskussionen der Erwachsenen sind die eher schwächeren Teil des Films: viele Worte, abgenutzte Begriffe, zwanghafte Selbstdarstellungen von Intellektuellen. Auch der Kommentar verwaltet oft Sprache statt zu konkretisieren. Aber die Hauptsache: Beobachtungen in der Schule, wo die Kinder in ihren Bedürfnissen ernst genommen werden. Da wird gespielt, gekocht, getöpfert, Zeitung gemacht, fotografiert, übers Kinderkriegen geredet und sogar der Schulhof mit Lust aufgeräumt. Ein Vormittag in einer 1. Klasse (Arbeit am Projekt „Wohnen“). Und im Mittelpunkt des Films die Recherche einer 5. Klasse über das Leben des Schulhausmeisters Friedel. Ein langes Gespräch mit neugierigen Fragen öffnet einen inoffiziösen Blick in die deutsche Geschichte: Alltag in den dreißiger Jahren, persönliche Erfahrungen mit dem Faschismus. Die Lehrerin geht mit den Kindern in das Viertel, in dem Friedel aufgewachsen ist. Was hat sich verändert? Was ist noch an Dokumenten von damals zu finden? Ganz unauffällig beobachtet die Kamera, wie die Kinder dabei ihre Interessen entfalten. Da ist auch kein Kommentar mehr notwendig, da trägt sich das Material durch seinen eigenen Duktus. Der Film, in mehreren Phasen gedreht, ist in seinen besten Teilen anschauliche Gegen-information. Die wir für konkrete Utopien brauchen.

Querverweis: Wolfgang Jung hat zusammen mit Günter Hörmann die Kamera bei lernen ohne zwang geführt. Fast parallel zur Arbeit am Glocksee-Film hat Jung ein eigenes dokumentarisches Projekt realisiert: einen vierteiligen Film über die Freinet-Pädagogik in Frankreich, den kindern das wort geben. Auch diese Filme leben von der Beobachtung. Von September 76 bis Juni 77 hat Jung in drei Etappen mit seiner Partnerin Barbara Lindemann den Unterricht in einer Schulkasse in Sausheim (Elsaß) verfolgt. In drei Filmen (Teil 1: 30 Minuten, Teil 2: 82 Minuten, Teil 3: 65 Minuten) werden Entwick-lungen dokumentiert, die ein eindrucksvolles Plädoyer gegen die traditionelle Schule und für die Freinet-Pädagogik ergeben. Der vierte Film (42 Minuten) zeigt die Arbeit einer Freinet-Lehrergruppe in Straßburg. Der inhaltliche Zusammenhang zwischen lernen ohne zwang und den kindern das wort geben stellt sich auch über die Ästhetik her: wenn die Kamera die Kinder beobachtet, entsteht eine Intensität, die so nur dokumentarisch zu erreichen ist.

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zwei protokolle, 42 min., 16mm, schwarzweiß.

Protokoll eins: Karl-Heinz Roth, von Mai 75 bis Juli 77 in Haft, dann zusammen mit Roland Otto von der Anklage des gemeinschaftlich begangenen Mordes an einem Polizisten freigesprochen, erzählt von den Haftbedingungen in den Strafanstalten Ossendorf und Bochum. Als angeblicher Terrorist verbrachte er über 20 Monate in Isolations-haft. Seine Erfahrungen, seine Gefühle, seine Reflexionen hat er kurz nach seinem Freispruch in einem Interview ausgedrückt. Dieses Inter-view war das Ausgangsmaterial für den Film. Aber es gab zunächst keine Bilder, nur die Tonaufnahmen. Deshalb:

Protokoll zwei: Bilder aus der modernen Strafanstalt Brackwede; funktionale Gänge, sterile Zellen, Beton, Drahtzäune, ein kahler Innenhof, fast keine Menschen, drum herum die Knastmauer. Die Architektur verwaltet die Insassen. Die Kamera bildet diese Architektur ab – zum Teil in ruhigen, festen Einstellungen, zum Teil in endlosen Schwenks; sie lässt sich dabei auf die Monotonie und die Brutalität des Sichtbaren ein.

Karl-Heinz Roth bleibt unsichtbar. Sein Monolog nimmt – mit einer kurzen Unterbrechung – unser akustisches Wahrnehmungsvermögen in Anspruch. Wir hören zu und müssen uns dabei auf seine zum Teil schwierige, abstrakte Sprache einstimmen. Dabei geschieht etwas sehr Überraschendes: die Bilder, die Roths Text nicht gezielt illustrieren und insofern einen zweiten Anspruch an uns stellen, sensibilisieren uns fürs Hören und behalten dabei ihre eigene Mitteilungsebene. Sie treten in den Vordergrund, wenn Roths Monolog zu geschwätzig oder zu selbst bemitleidend wird, und sie rücken in den Hintergrund, wenn der Text größere Intensität entwickelt (etwa in einer Reflexion über Suizid im Knast).

Einzelne Sequenzen wird man nicht so leicht vergessen können: Das Innere einer Zelle, Pritsche, Tisch, Betongitterfenster, Spion in der Tür, keine Toilette, nur eine gekachelte Ecke zum Pissen und Kacken, oben ein großes Glasfenster, durch das der Gefangene zusätzlich beobachtet werden kann. In der Mitte des Films die einzige Sequenz mit Synchron-ton: Rufe der Gefangenen durch die Gitterfenster auf dem Innenhof, Arme recken sich durch die Betonöffnungen, eine Atmosphäre der Aggression. Am Ende ein Gang entlang der Knastmauer, die unüber-windbar ins Bild ragt. Brutalität in Stein.

Die Blitzer, die beim Ein- und Ausschalten der Kamera entstehen, sind bewusst nicht ausgemustert worden, die Kameraführung wirkt eher „kunstlos“, uneben, spontan. Rundschwenks im Inneren einer Zelle oder auf dem Gefängnishof wurden nicht von der Schulter, nicht vom Stativ aus gemacht. Verschiedene Einstellungen wiederholen sich mit minimalen Variationen. Das begrenzte Bildmaterial und der monolo-gische Ton intensivieren sich und drücken eine ästhetische wie politische Beharrlichkeit aus, die den Film gleichzeitig dokumentarisch wie experimentell erscheinen lässt.

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informationen aus dem hinterland, 60 min., 16mm, Farbe.

Wallraff bei Bild, gefilmt fürs Fernsehen, vom Fernsehen nicht gesendet – die Sensation hat sich da auch gleich ihre Legende verschafft, und so war dieser Film im Herbst 77 ein überraschender Kinoerfolg in vielen Städten. Freilich: er ist nur ein wichtiges Dokument, kein wichtiger Dokumentarfilm. Thema und Produktionsbedingungen schufen nicht die Voraussetzung für eine ästhetische Radikalität, wie sie für ein dokumentarisches Produkt unabdingbar ist. Wallraffs Alleingang zwang den Filmemachern eine monologische Struktur auf, die das Erlebte oft nur durch Statements vermitteln kann. So gerät der Film über weite Strecken zu einem Psychogramm von Wallraff, und auch jene Szene, in der die Kamera mit Wallraff zusammen in der Redaktion ist, vermittelt nur den Kitzel des Sensationellen und nichts von alltäglicher Arbeit.

Übrig bleibt – und das ist nicht wenig – die politische Dimension des Films, die durch Wallraffs Mut eröffnet wurde und durch die Ängstlichkeit von Fernsehdirektoren, diesen Mut zu veröffentlichen. Insofern ist das Produkt letztlich gegen zwei Medien gerichtet: gegen die BILD-Zeitung und gegen unser ängstlich verwaltetes Fernsehen.

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deutschland im herbst, 124 min., 35mm, Farbe mit sw-Teilen.

Es liegt nahe, das Konglomerat deutschland im herbst methodisch und stilistisch auseinander zu sortieren, und viele Kritiker des Films haben das auch getan. Ergebnis: die dokumentarischen Teile schneiden gut ab, sie werden als herausragend, als zukunftsweisend empfunden (zum Beispiel von Wolfram Schütte und Hans C. Blumen-berg). Die Spielfilmszenen – Ausnahme: die Fassbinder-Episode – gelten den Kritikern mit Recht als belanglos, harmlos, schmächtig. Eine eigenständige Qualität wird – ebenfalls mit Recht – den Verbindungselementen zuerkannt, in denen Wochenschaumaterial, Bildzitate, Musikzitate, Aphorismen und eine „Spielfigur“, die hessische Geschichtslehrerin Gaby Teichert, addiert sind. Alexander Kluge, unverkennbar der Autor dieser Sequenzen, verschafft dem Film da eine interessante historische Dimension.

Wie aber verhält es sich mit den viel gelobten dokumentarischen Beobachtungen, für die ebenfalls Kluge (zusammen mit Volker Schlöndorff) verantwortlich ist. Ich bin skeptisch.

Wir sehen zwei Trauerfeiern: den Staatsakt für Hanns Martin Schleyer und das Begräbnis von Baader/Ensslin/Raspe. Beide Ereignisse fanden in Stuttgart statt. Gefilmt wurde jeweils mit zwei Kamerateams in 35mm-Farbe, die Bilder sind brillant, gelegentlich werden schwarz-weiße Videoaufnahmen einmontiert. Der Film beginnt mit der Schleyer-Beerdigung. Wir sehen Politiker, Angehörige, Sicherheitsbeamte, Kränze, Fahnen der Firma Esso. Alexander Kluge verliest einen Brief von Hanns Martin Schleyer an seinen Sohn (off). Die Sequenz erzeugt eine diffuse Stimmung und klingt mit einem Zitat aus: „An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat: sie soll nur aufhören.“

30 Minuten später (inzwischen waren zu sehen: die Fassbinder-Episode und die Gaby Teichert-Episode) folgt der zweite dokumentarische Komplex, noch einmal die Trauerfeier für Schleyer: Anfahrt zum Staatsakt in der Eberhardskirche am 25. Oktober 77. Im Inneren der Kirche: Trauergäste und Fotografen, die Medien. Einmontiert wird eine Wochenschauszene mit dem Attentat auf den König von Serbien (1936 – Mord des deutschen Geheimdienstes). An einer Straßensperre in Stuttgart wird ein Türke von der Polizei festgenommen, weil er ein Gewehr bei sich trägt. Polizisten sagen, das dürfe er heute nicht. Alexander Kluge erklärt uns, der Türke habe sich eine Taube zum Mittagessen schießen wollen. Dann: Mercedes-Fahnen mit Trauerflor, Staatsakt in der Kirche, der in einen großen Saal des mit Schleyer verbundenen Automobilwerkes übertragen wird. Aufnahmen aus dem Museum der Firma Daimler-Benz. Im Werk stehen für drei Minuten die Bänder still. Kommentar: „Hier arbeiten 95 Prozent ausländische Arbeiter. Die Medien sind anwesend.“ Die Sirene ertönt, das Band läuft an. Bundespräsident Scheel hält seine Rede in der Kirche (kurzer Ausschnitt). Gesichter von Politikern und Angehörigen. Im Neuen Schloss wird die weltliche Trauerfeier vorbereitet: der Oberkellner macht mit Kellnerinnen und Kellnern eine Generalprobe.

Hans C. Blumenberg und andere Kritiker behaupten, dass sich Kluge und Schlöndorff in ihren dokumentarischen Sequenzen kaum für Haupt- und Staatsaktionen interessieren; sie hätten ihre Kameras dort postiert, wo die Neugier der offiziellen Medien endete. Richtig ist, dass die Neugier der offiziellen Medien begrenzter war: kein festgenommener Türke, kein Daimler-Benz-Museum, kein Oberkellner. Aber auch die dokumentarische Neugier von Kluge und Schlöndorff ist zu begrenzt. Sie richtet sich eben doch nur auf die Haupt- und Staatsaktionen, denen sie arabeskenhaft, mit ironischer Attitüde, Nebenbei-Beobachtungen abgewinnt. Auf Menschen lässt sich diese Neugier nicht ein, auf das Alltägliche schon gar nicht. Die Kameras suchen die kleinen Widersprüche im offiziellen Ereignis, die Montage unterstützt noch diese Ästhetik der minimalisierten Eindrücke: Typisch: wenn das Band nach drei Gedenkminuten bei Daimler-Benz wieder anläuft, ist das Interesse an den Gesichtern der Arbeiter zu Ende. Schnitt auf Scheel. Es soll Aufnahmen von Gesprächen mit Arbeitern in den Werkshallen geben. Nichts davon im Film. Gezeigt werden Partikel des Sensationellen, gefunden mit einiger Autorenphantasie, wer das als dokumentarische Alternative zur Fernsehberichterstattung ausgibt, übersieht, welche Leistungen gerade im Fernsehen von Dokumentaristen wie Wildenhahn und Fechner erbracht worden sind. Blumenbergs Lob des Dokumentarischen in diesem Film ist Kinoideologie.

Dann das Mahler-Interview. Formal ein TV-Beitrag. Der Schauspieler Helmut Griem spielt einen Fernsehredakteur, eine Art Stefan Aust. Mahler lässt Besonnenheit in den Film einfließen, er darf relativ lange reden, er lässt uns ziemlich kalt. Ich denke an die Intensität von Karl-Heinz Roth in den zwei protokollen zurück. Das Mahler-Interview wird als Dokumentarstück ausgegeben, es ist in jeder Hinsicht ein Spiel.

Später: Aufnahmen vom Herbstmanöver 77. Panzer. Sie fahren an Häusern vorbei. In einer Tür steht eine Frau und sagt: „Ich habe keine Angst.“ Dann kippt die Szene in ein Klugesches Soldatenspiel um. Partikel vom SPD-Parteitag, schwarzweiß gefilmt. Herbert Wehner spricht und Max Frisch. Hannelore Hoger, die die Rolle der Gaby Teichert spielt, macht sich Notizen. Ein Kluge-Gag.

Schließlich: die Vorbereitung der Beerdigung von Andreas Baader, Gudrun Esslin, Jan-Carl Raspe und die Trauerfeier auf dem Dornhalde-friedhof in Stuttgart am 27. 10. 77. Statements von Gudrun Ensslins Schwester Christiane und Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel; Blick in die Gräber, Blick auf den Leichnam von Gudrun Ensslin; ein Gastwirtsehepaar hat sich bereit erklärt, gegen die öffentliche Meinung zu handeln und die Nachfeier in der Gaststätte auszurichten (mehr erfahren wir über das Ehepaar nicht); Menschen strömen über die Friedhofswege, Fotografen drängen rücksichtslos an die Gräber, eine revolutionär geballte Faust ragt in die Luft, Polizisten warten im herbstlichen Wald auf ihren Einsatz, Pferde, Hubschrauber; kurze Ansprachen (wer redet?), Abgang der Trauergäste, Polizei-sperren, Sprechchöre „Mörder!“, die Friedhofsgärtner schaufern die Gräber zu, ein Kranz mit roter Schleife („Den ermordeten Genossen“), ein Kameramann fährt im Auto durch die Absperrungen; Joan Baez singt das Sacco-und-Vanzetti-Lied „Here’s to you“; eine junge Frau, an der Hand ein kleines Kind, geht eine Straße entlang und versucht, ein Auto zu stoppen. Ende.

An dieser letzten dokumentarischen Episode (sie dauert circa 20 Minuten) sind zwei Aspekte zu erörtern, die mit dokumentarischer Filmarbeit zusammenhängen: die Parteilichkeit und die Frage der Perspektive.

Es liegt auf der Hand, dass Kluge und Schlöndorff ihre dokumentarische Aufgabe nicht als parteiliche Fürsprache für direkt Betroffene begreifen konnten. Sie bilden vielmehr die widersprüchliche Betroffenheit von vielen – und von sich selbst – ab. Sie bieten uns ihr Material, ihre Phantasien, ihre Beobachtungen in einer synthetisierten Form an, die nur sie selbst als Autoren zu legitimieren haben. Damit ergibt sich ein wichtiger Unterschied zu den anderen beschriebenen Dokumentarfilmen. Dort gibt es Protagonisten (Betroffene), die in sehr direkter Weise mit den Filmemachern verbunden sind und deren Anspruch, ihre Sache unausgewogen vorzutragen, die Filmemacher bei der Aufnahme und bei der Montage des Materials akzeptiert haben. Das Herz der an deutschland im herbst beteiligten Filmemacher schlägt sicherlich nicht für die Ordnungsmächte. Aber ihre Irritation reproduziert sich gerade in den dokumentarischen Teilen durch Unentschiedenheit und ein ästhetische Spiel.

Fast peinlich wird dies am Ende des Films. Durch die formale Zuspitzung des Materials, in der eine Abrundung durch die Autoren sichtbar wird, entfernt sich der Film sehr endgültig von einem dokumentarischen Prinzip. Er synthetisiert durch die Montage und die Musik sein „Wochenschaumaterial“ und drängt damit auf eine scheinbare Perspektive. Kostüm und Gestus der Frau, die mit ihrem Kind am Ende die Straße entlang geht, assoziieren: hier ist jemand aus der linken Bewegung, hier kann jemand Sympathien der Intellektuellen mit dem Anarchismus transportieren (ich vereinfache), und darüber legen die Autoren das Lied von Sacco und Vanzetti. Sie fügen damit historisch Unvergleichbares zueinander, sie runden den Film mit einer emotionalen Perspektive ab, aber sie haben in Wirklichkeit nichts anzubieten. Sie führen uns, die Zuschauer, zu nichts anderem als zu einer geschmacklichen Vereinbarung: antiautoritäre Frau mit Kind an der Hand plus bestimmtes Liedgut ergeben ein Aufbruchsgefühl… Deutschland, ein Herbstmärchen.

Hans Günther Pflaum (Hg.): Jahrbuch Film 78/79. München: Hanser 1978.