Texte & Reden
29. Juni 1972

Beobachtungen an der Münchner HFF

Text für den Informationsdienst dffb-info

1.     Über Entfernungen

München ist von Berlin 584 km entfernt. Ein Flugzeug braucht von Berlin nach München 70 Minuten, die Eisenbahn fährt 10 Stunden und 40 Minuten. Für die Reise im privaten Pkw werden unterschiedliche Zeiten genannt. Die Entfernung zwischen Berlin und München ist überbrückbar. Zwischen der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film und der Berliner Film- und Fernsehakademie jedoch gibt es Entfernungen, die offenbar geographisch oder verkehrstechnisch nicht messbar sind. Hochschule und Akademie wissen wenig voneinander. Und sie tun wenig, um mehr voneinander zu erfahren. Ich kann mich nicht erinnern, dass ernsthafte Informationskontakte auf der Ebene der Studenten, der Dozenten oder der Direktion in den letzten Jahren stattgefunden haben. Ich war (zusammen mit Jürgen Peters) im Sommer 69 zwei halbe Tage an der Münchner Hochschule – aber das war für alle Seiten ziemlich folgenlos. Inzwischen war auch der Münchner Studienleiter zu Besuch an der Akademie – aber da stand der drei Wochen vor seiner Pensionierung. Außerdem haben mal zwei Münchner Studenten bei uns hereingesehen. Und schließlich kam, ganz inoffiziell und nur einen Nachmittag lang, die eloquente Fernsehdozentin Anneliese de Haas zu uns. Niemand wird sagen können, man sei sich dabei näher gekommen. Im November war ich vier Tage an der Münchner Hochschule. Ich habe einiges gehört und gesehen und jetzt, nachdem ich meine Eindrücke ein bisschen sortiert habe, erscheint mir die Entfernung zwischen Berlin und München noch größer.

2.      Über das Prestige

Die Münchner Hochschule hält sich viel darauf zugute, dass sie eine Hochschule ist. Aus ihrer Sicht ist die Berliner Akademie eben „nur“ eine Akademie, während der eigene Status so etwas wie Wissenschaftlichkeit, Theorie-Nimbus und Anerkennung im geistigen Olymp ausmachen soll. Der Hochschulanspruch wird bereits in der Organisation sichtbar. Es gibt zwei Abteilungen mit Wissen-schaftsehrgeiz: die Abteilung „Kommunikationswissenschaft und Ergänzungsstudium“ (geleitet von dem Zeitungswissenschaftler Professor Otto Roegele) und die Abteilung „Technik“ (geleitet von dem Rundfunktechniker Professor Richard Theile). Der Besuch von Seminaren in beiden Abteilungen ist Pflicht. Ohne Seminarscheine keine Abschlussprüfung.

Die Abteilung I ist noch einmal unterteilt in das Pflichtfach Kommunikationswissenschaft (vermittelt u. a. durch Professor Gerhard Lanius) und die Wahlfächer Ästhetik der AV-Kommunikation, Psychologie, Soziologie/Politologie. Auch hier formulieren sich Ansprüche, die bedenkenlos aus der Universitätstradition abgeleitet werden: Dr. Ulrich Sonnemann hält z. B. ein Kolleg über „Erkenntnistheorie und Gesellschaftserkenntnis. Einführung in die Geschichte ihres Verhältnisses und dessen aktuelle Konflikte“. Wer das Münchener Vorlesungsverzeichnis liest, merkt: es war schon immer etwas anspruchsvoller, an einer richtigen Hochschule zu lernen.

Auch die Abteilung II (Technik) vermittelt Theorie. Für einige Wochen braucht ein Münchner Filmstudent noch einmal Physikbuch und Logarithmentafel, wenn er sich durch die Grundlagen von Licht und Optik, durch die Technik der Bildaufnahme und Bildspeicherung, der Schallaufnahme und Schallspeicherung durcharbeitet. Kein Zweifel: hier werden wichtige Informationen vermittelt. Aber sie werden zum Pensum, zur leeren Pflichtübung degradiert, weil ihnen jeder Zusammenhang zur Praxis und zur Erfahrungsmöglichkeit der Studenten fehlt.

Das Theorieangebot der Abteilungen I und II drückt eigentlich nur noch das Prestigeinteresse der Hochschulleitung aus, es korrespondiert nach meiner Beobachtung höchstens in zwei Bezirken mit studentischen Interessen: in einem politökonomischen Arbeitskreis und in einer Übung über Genrefilme. Beide Veranstaltungen gehen auf Initiativen politisch bewusster Studenten zurück, die sich damit in der Lehrplan-kommission durchsetzen konnten. Bisher ist es den Studenten freilich nur gelungen, zusätzliche Seminare ins Leben zu rufen, alte tot gekriegt haben sie noch keins.

Die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis ist in München seit der Hochschulgründung evident, da die Theorie vorwiegend aus der Ludwig-Maximilian-Universität und die Praxis vorwiegend aus Bavaria und Bayerischem Rundfunk bezogen wurde und wird. Da bezieht sich fast nichts aufeinander, und wenn noch immer versucht wird, in den kurzatmigen Semestern Theorie und Praxis zusammenzuzwingen, stellt sich das für die Studenten als Hetzjagd dar durch den „Supermarkt an Lehrangeboten“ (Asta-Formulierung). Wenn es dann an die Produktion geht (in der zweiten Semesterhälfte), verschwindet der theoretische Rahmen, weil er für die Projekte nicht verwendungsfähig ist. An dieser Malaise haben auch kosmetische Reparaturen im Lehrangebot nichts verändert. Zur Information empfehle ich einen Blick ins Vorlesungs-verzeichnis der HFF (das in unserer Bibliothek einzusehen ist).

Beim Zugang zum Studium achtet man in München auf Hochschul-maßstäbe. Das Abitur wird in der Regel vorausgesetzt, der gebildete Bürgersohn, der talentiert formuliert, kommt offenbar am besten durch die Prüfung. Die Aufnahmeprüfung ist ein Surrogat des Berliner Verfahrens: für die Vorauswahl kombiniert man inzwischen zwei Aufsätze zu gestellten Themen mit der Möglichkeit, „künstlerische Arbeiten“ einzusenden. In der zweitägigen Prüfung muss der Bewerber dann einen Super-8-Film drehen oder ein Drehbuch schreiben – und sich dem Prüfungsgremium in einem Colloquium stellen.

Am Ende des Studiums steht eine Art Staatsexamen. Man wird in München für Theorie und Praxis diplomiert, zuweilen sogar nur für Theorie. Die Maßstäbe für die Beurteilung sind undurchsichtig. Spätestens im dritten Jahr bleibt auch einiges vom Hochschulanspruch auf der Strecke: der Student dreht seinen Abschlussfilm. Erst, wenn er das Hochschulzeugnis in der Tasche hat, weiß der Absolvent wieder, wo er war.

So eine richtige Hochschule wirft aber nicht nur für die Studenten etwas ab. Auch die Abteilungsleiter II bis V (hauptberuflich in Direktionspositionen bei Bavaria und Bayerischem Rundfunk oder unlängst pensioniert) haben da profitieren können: Sie wurden inzwischen zu Honorarprofessoren ernannt.

3.      Über die Konkurrenz

Lassen wir die Konkurrenz zwischen Berlin und München einmal aus dem Spiel – schließlich müssen wir da als befangen gelten. Auffallend genug scheint mir das Konkurrenzprinzip in der Münchner Hochschule selbst angelegt. Als erstes bemerkt man die Konkurrenz zwischen den Fachabteilungen III (Film), IV (Fernsehpublizistik) und V (Künstlerische Fernsehproduktion). Bewerber haben sich schon vor der Aufnahmeprüfung für eine Abteilung zu entscheiden. Sind sie dann als Studenten aufgenommen, lassen sie sich ziemlich schnell auf ein ehrgeiziges Abteilungsdenken ein, das vom Lehrpersonal begünstigt wird. Soweit es zwischen den drei Fachabteilungen überhaupt Kommunikation gibt, ist sie immer von einem latenten Eifersuchtsgefühl begleitet.

Ziemlich offen zeigt sich die Konkurrenz, wenn am Dienstagabend für Studenten aller Abteilungen Vorführungen von Hochschulproduktionen stattfinden. Da werden die Filme nur noch gegeneinander ausgespielt, da äußert sich höchstens Neugierde, meist Schadenfreude und am wenigsten eine produktive Solidarität.

An den Abteilungsgrenzen scheiterten bisher auch alle Versuche der politisch bewussten Studenten, zu einer gemeinsamen Strategie inner-halb der Hochschule zu kommen. Kein AstA an der Münchner HFF hat es bisher vermocht, über die Abteilungen hinweg studentische Inter-essen zu verknüpfen und gemeinsame Perspektiven zu entwickeln. Im Grunde gibt es solchen Zusammenhalt nicht einmal innerhalb der einzelnen Abteilungen. Denn auch hier wird das Konkurrenzprinzip sichtbar. Studenten lernen von Anfang an: die Branche ist ohne Erbarmen, es überlebt nur, wer etwas leistet. So ergibt sich in jeder Abteilung in jedem Jahrgang eine Wettbewerbssituation, die ihren Höhepunkt in den Produktionszeiten erreicht. Die Kalkulation bleibt in der Regel ein Geheimnis zwischen Abteilungsassistent und produzie-renden Studenten. Für die Produktionssummen in jedem Jahrgang gibt es zwar Richtzahlen, aber da bleibt ein ansehnlicher Spielraum. Ob ein Abschlussfilm achttausend oder zwölftausend Mark kosten darf – darüber redet man unter vier Augen, darüber entscheidet der Abteilungsassistent.

Zwar wird in den verschiedenen Abteilungen auch die Gruppen-produktion gefördert, aber die Gruppenbildungen passieren eher schematisch, ohne eine gemeinsame Linie. In der Regel produziert der Student in München allein, und es ist auffällig, wie sehr er sich dabei isoliert von seiner Umwelt, wie er sich an Vorbildern orientiert, und wie die sogenannte Sensibilität im Konkurrenzgefüge Schaden nimmt. Es ist schwer, mit Münchner Filmstudenten über Filme zu reden. Zumindest, wenn man aus Berlin kommt.

dffb-info, Nr. 17, Januar 1972