Texte & Reden
08. Oktober 1965

Kein Kompliment für die DEFA

Text für die Stuttgarter Zeitung

Zu einer Umfrage der Ostberliner Zeitschrift film

Umfragen in der DDR bringen nicht nur Antworten ein, die der SED Freude machen. Im Januar fragte die Ostberliner Kulturzeitschrift Sonntag ihre Leser „Wie war der Film?“ 35 Titel sollten mit jenen Kreuzen und Kreisen versehen werden, die sich in westlichen Filmzeitschriften als Orientierungshilfen eingebürgert haben. Die Ostberliner Skala war differenzierter: sie reichte von xxxxx („überragend“) bis ooo („ärgerlich“), ermöglichte also acht Wertungen. Im März veröffentlichte der Sonntag das Ergebnis. 180 Leser hatten ihre Meinungen kundgetan. Die Tabelle wurde ein schmeichelhaftes Votum für den westdeutschen Film: das wunder des malachias und die brücke lagen an der Spitze der Lesergunst, schloss gripsholm fand die meisten Zuschauer, und die östliche pension boulanka rangierte noch hinter der westlichen pension schöller. So hatten sich die Initiatoren das Ergebnis der Befragung sicher nicht vorgestellt. Im Juni übte der Sonntag Selbstkritik: „Durch die zufällige Beteiligung einiger unserer Leser mit unterschiedlichen Kenntnissen, Bildungsgrad und Informationsmöglichkeiten entstand aus subjektiv ehrlicher Wertung ein objektiv verzerrtes Bild. Das Unternehmen war ‚ein zweifelhaftes pseudosoziologisches Unterfangen’… die ganze Anlage war so oberflächlich, dass sie eine undifferenzierte Beurteilung förderte und eine marxistische Betrachtungsweise unterband.“ Günter Netzeband, der verantwortliche Filmredakteur, trennte sich vom Sonntag, Fred Gehler, sein profiliertester Mitarbeiter, ist seit Monaten zum Schweigen verurteilt.

Eine neue, nicht minder aufschlussreiche Umfrage veranstaltete jetzt die Ostberliner Zeitschrift film – Wissenschaftliche Mitteilungen, die vom Institut für Filmwissenschaft an der Hochschule für Filmkunst herausgegeben wird. Sie legte 45 Filmschaffenden der DDR fünf Fragen vor: 1. Welche Filme der fast 20jährigen DEFA-Produktion gehören nach Ihrer Meinung zu den national und international repräsentativsten Filmwerken? 2. Welche Filme aus der sozialistischen Produktion der letzten Jahre gehören für Sie zu den produktivsten Werken? 3. Welche Filme aus der kapitalistischen Produktion haben Sie am meisten beeindruckt? 4. Suchen Sie für Ihr persönliches Schaffen nach Vorbildern? 5. Was benötigen wir nach Ihrer Meinung als Voraussetzung für die Entwicklung der Filmproduktion am dringendsten?

Die Redaktion erhielt 22 Antworten: von acht Regisseuren, darunter Konrad Wolf und Kurt Maetzig, sechs Autoren, vier Kameramännern, zwei Leitern einer künstlerischen Arbeitsgruppe, vom Direktor des DEFA-Spielfilmstudios und vom Rektor der Deutschen Hochschule für Filmkunst.

Auf die erste Frage nannten 17 Konrad Wolfs sterne (1959), 16 Staudtes die mörder sind unter uns (1946), 12 Staudtes untertan (1951), 8 Kurt Maetzigs schlösser und katen (1957) und je 6 affäre blum (Erich Engel, 1948), ehe im schatten (Maetzig, 1947), berlin – ecke schönhauser (Gerhard Klein, 1957) und nackt unter wölfen (Frank Beyer, 1963).

Diese Abstimmung stellt dem DEFA-Film der sechziger Jahre ein Armutszeugnis aus. Von den rund 100 Filmen, die seit 1960 in Babelsberg entstanden sind, wurden nur Beyers Buchenwald-Film, Konrad Wolfs geteilter himmel (vier Stimmen) und Joachim Kunert abenteuer des werner holt (drei Stimmen) mehr als einmal genannt. Die Filmschaffenden sind mit de DEFA härter ins Gericht gegangen als die Kritiker oder das Publikum. Günther Rücker, dessen erster Spielfilm kurz vor der Premiere steht, beantwortete die erste Frage mit einem eindrucksvollen „“, während der Regisseur Günter Stahnke dieses Zeichen in einen Satz kleidete: „Jene Handvoll, die seit 20 Jahren zitiert werden, aber es gibt keinen Film, der überzeugend künstlerisch bewältigte, wo wir sind, wie wir sind, was wir sind.“ Den Mangel an neuen, international konkurrenzfähigen DEFA-Filmen machen auch die Antworten auf die zweite und dritte Frage offenbar. Da werden zahllose ausländische Titel aus den letzten Jahren genannt, denen die DDR nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat.

Bei der „sozialistischen Produktion“ ergibt sich folgende Rangordnung: 1. neun tage eines jahres (16 Stimmen), 2. die ballade vom soldaten (8), 3. iwans kindheit (7), 4. wenn die kraniche ziehen und asche und diamant (je 6), der schwarze peter, der angeklagte und als die bäume gross waren (je 5). Noch immer sind also sowjetische Filme richtungsweisend, erst in jüngster Zeit wird der Einfluss aus der Tschechoslowakei stärker. der angeklagte von Kadard und Klos war im Übrigen noch nicht in den Kinos der DDR zu sehen. Dort fehlen auch noch viele der „kapitalistischen Produktionen“, die auf die dritte Frage genannt wurden. Die Reihenfolge sieht da so aus: rocco und seine brüder (11 Stimmen), das urteil von nürnberg (10), 8 ½ (9, noch nicht im Spielplan), hiroshima, mon amour (7, noch nicht im Spielplan), westside-story (6, noch nicht im Spielplan, da der amerikanischen Verleih zu hohe finanzielle Forderungen stellt), samstagnacht bis sonntagmorgen, das apartment und das wunder des malachias (je 5). Hier sind auch einige Einzelstimmen interessant: zwei für Bunuels viridiana, zwei für Godards nana s., eine für Cocteaus orphée und für Kubricks dr. seltsam – alle diese Filme sind dem DDR-Publikum unbekannt.

Ingmar Bergman wurde nicht genannt, die jungen Amerikaner fehlen ebenso wie die wichtigsten Japaner, Wicki und Staudte haben – wie schon in der Umfrage des Sonntag – gute Plätze. Überraschend scheint die Vorliebe für Stanley Kramer (das urteil von nürnberg; sein letztes ufer erhielt immerhin auch vier Stimmen). Da dürften das vorgebliche Engagement des Regisseurs und seine imponierende Schauspielerführung eine entscheidende Rolle spielen. Die Interpretation der einzelnen Antworten muss natürlich mit aller Vorsicht erfolgen, da die Aufzählung von Titeln noch nichts über die Motivation der Auswahl verrät.

Als Vorbilder – Frage vier – werden mehrmals Eisenstein, Brecht, Visconti und Fellini genannt. Nur einer denkt da an seine SED-Verpflichtungen und behauptet tatsächlich: „Richtschnur für mein persönliches Verhalten und meine Arbeit ist seit Jahrzehnten die Linie, die von meiner Partei festgelegt wurde. In der Durchführung der Parteibeschlüsse sehe ich den Sinn meiner politischen und künstlerischen Arbeit…“ (Otto Gotsche, Schriftsteller, Sekretär des Staatsrates).

Mit ungewöhnlichem Freimut beantworten einige Filmschöpfer die Fragen nach „Voraussetzungen für die Entwicklung der Filmproduktion“. „Weltoffenheit!“ fordern der Regisseur Kurt Barthel und die Schriftstellerin Christa Wolf. Das meinen auch die anderen, wenn sie sagen: „Kontinuierlicher, gewissenhafter internationaler Vergleich“ (DEFA-Direktor Mückenberger), „Weiter Filmhorizont“ (Autor Manfred Freitag), „Zur-Kenntnis-Nehmen der ästhetischen Entwicklung des Films in der Welt“ (Autor Wolfgang Kohlhaase). Die konkreteste Antwort liefert hier der Kameramann Roland Gräf: „Es sollte endlich gesichert werden, dass man sich mit der internationalen Produktion vertraut machen kann. Dies ist zurzeit unmöglich, Mitarbeiter des Studios, sogar ehemalige Absolventen werden auf Grund einer Anordnung am Betreten der Filmhochschule gehindert, wenn sie sich dort bestimmte Filme anschauen wollen.“ Und Günther Rücker, der die Provinzialität der DEFA so kurz und bündig hingemalt hatte, sagt: „Alle progressiven Filme der Weltproduktion in die Filmtheater, nur so bilden sich Publikum und Filmemacher.“ Er sagt allerdings nicht, was er unter progressiv versteht.

Es wäre gewiss zu einfach, aus den 22 Antworten eine Hinrichtung des DDR-Films herauszulesen. Die Redaktion hat sich gegen voreilige Interpretationen abgesichert: „Die Erfahrungen, die Sachkenntnis und das persönliche Engagement der Befragten verleihen den Antworten zwar eine bestimmte Repräsentanz, erlauben aber in der Verschiedenheit der Meinungen und Formulierungen nicht, oberflächliche Schlussfolgerungen zu ziehen.“ Über das Bewusstsein und die Selbsteinschätzung der Filmschaffenden in der DDR gibt die Umfrage indes manche Auskünfte, die konkreter und zuverlässiger sind als die letzten Filme der Autoren und Regisseure. Auch die offenen Gespräche sind nun wieder in Gang gebracht. Mit diesem Diskussionsstoff kommen die Filmschaffenden sicher über den Winter.

Stuttgarter Zeitung, 8. Oktober 1965, Seite „Film, Funk, Fernsehen“.