Texte & Reden
02. März 1965

Die Abenteuer des Werner Holt

Text für die Stuttgarter Zeitung

Heldenfiguren in der neuesten DEFA-Produktion

Krieg ist für die DDR-Kinos noch immer ein Thema mit Profitchancen. 1964 gehörten DIE LEBENDEN UND DIE TOTEN aus der Sowjetunion und DIE BRÜCKE aus der Bundesrepublik zu den erfolgreichsten Filmen. Jetzt ist ein Titel der DEFA im Gespräch: DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT. Diese Verfilmung eines viel gelesenen Romans von Dieter Noll hat auf Anhieb die offiziöse Kritik und das Publikum für sich gewonnen. Im Neuen Deutschland wird der HOLT-Film als „Kunstwerk“ gefeiert, und noch vor der Premiere hatte das Ostberliner Renommierkino an die 15.000 Karren abgesetzt. Es ist nicht allein das Verlangen nach der Roman-Illustration, das den Zuschauerstrom ausgelöst hat. Die Jugend der DDR – und die stellt den größten Teil des Kinopublikums – hat vielmehr den festen Willen, die Zusammenhänge der jüngsten Vergangenheit zu begreifen. Literatur und Film leisten dabei Hilfestellung.

Die „Abenteuer“, die Werner Holt in den Jahren 1943 bis 1945 zu bestehen hat, sind Kriegserlebnisse. Zusammen mit einigen Schulkameraden meldet sich der 16jährige Holt freiwillig zum Wehrdienst, wird zunächst Flakhelfer, wechselt später an die Ostfront und erlebt den Zusammenbruch als Panzergrenadier. Am Ende sind all die Ideale, auf die der Gymnasiast Werner Holt einmal stolz war, in Frage gestellt. Auf dem Weg der Desillusionierung begleiten ihn gleichaltrige Freunde: ein fanatischer Offiziersspross, der den Krieg nicht überlebt, ein besonnener Rechtsanwaltssohn, der frühzeitig zu den Russen überläuft, der musisch begabte Primus der Klasse, dem sein Mitleid zum Verhängnis wird. Zwei Mädchen und eine Frau kreuzen Holts Weg und lassen jenes Quentchen Erotik einfließen, ohne das auch ein DEFA-Film nicht auskommen kann. Die Auseinandersetzung mit seinem Vater, einem Chemiker, der sich von der Arbeit für die Nazis zurückgezogen hat, ist ein ebenso entscheidender Akzent in Werner Holts Entwicklung wie die Konfrontation mit SS-Greueln an der Ostfront. Die falschen, vom Faschismus manipulierten Träume werden von der Wirklichkeit korrigiert. Holt ist ein „passiver Held“; ein bisschen positiv wird er nur, weil er zuguterletzt Widerstand leistet.

Den drei Stunden dauernden Film hat Joachim Kunert inszeniert, mit 35 Jahren ein Vertreter der Holt-Generation. Die Handlung wird in mehreren Rückblenden erzählt und dokumentiert den Besinnungsprozess des Helden. Die einzelnen Szenen wirken in ihrer Gestaltung sehr unterschiedlich, eindrucksvolle Konfliktsituationen stehen neben sentimentalisierenden Details und symbolisch gemeinten Stilisierungen. Kunert war immerhin vernünftig genug, die zahlreichen Personen, die auf Werner Holt einwirken, nicht in „gut“ und „böse“ zu schablonisieren, und die Entwicklung seines „Helden“ nicht als „sozialistische Heilsgeschichte“ zu konzipieren. Zu solcher Freiheit vom Dogmatismus haben sowjetische Filme – zuletzt DIE LEBENDEN UND DIE TOTEN – die notwendige Vorarbeit geleistet.

Differenzierungen oder gar Ambivalenz der Figuren ist in den neuen DEFA-Produktionen längst nicht die Regel. Besonders eklatant erscheint die Typisierung in den „Jugendfilmen“, einem Genre, das gerade in jüngster Zeit in der DDR sorgsam gepflegt wird. Die Zehn- bis Sechzehnjährigen sehen in diesen Monaten in Pflichtvorstellungen ein heroisches Gemälde aus der Zeit des Kapp-Putsches: ALS MARTIN VIERZEHN WAR. Da wird ein Buernjungen zur heldischen Schlüsselfigur emporstilisiert, weil er einen Trupp Kapp-Söldner überlistet. Die Zuschauer dürfen den ganzen Film hindurch um den kleinen Helden zittern und werden, ohne dass sie es recht merken, ideologisch eingesponnen.

Offenkundig ist die Propaganda in Joachim Haslers Film CHRONIK EINES MORDES. Die Handlung spielt in der Bundesrepublik, in der Gegenwart. Eine jüdische Frau, deren Eltern von den Nazis umgebracht worden sind, erschießt den Bürgermeister ihrer Heimatstadt, weil er an der Ermordung ihrer Eltern beteiligt war. Hasler, der auf antiwestdeutsche Filme spezialisiert ist, setzt voraus, dass es Gerechtigkeit in der Bundesrepublik nicht gibt. So konstruiert er einen Fall „symptomatischer Selbstjustiz“ und versucht, propagandistisches Kapital daraus zu schlagen. Der Einsatz des Films, im März, fällt nicht zufällig mit den letzten Diskussionen um die Verjährung der Nazi-Verbrechen in der Bundesrepublik zusammen. Haslers Bestandsaufnahme der westdeutschen Gegenwart ist voll sachlicher Fehler und wirkt emotional aufgeladen. Die Hauptrolle spielt Angelica Domröse, eine der attraktivsten und beliebtesten DEFA-Darstellerinnen. Sie ist als „Heldin“ nur bedingt brauchbar, da sie ja auf illegale Weise die Ungerechtigkeit korrigiert. Indem jedoch der Film die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse attackiert, die zur Privatrache herausfordern, teilt er seiner Hauptfigur die Attribute einer Märtyrerin zu. An Mitgefühl wird es in den Kinos nicht mangeln, denn Angelica Domröse geht mit dekorativer Leidensmiene durch den Film.

Die Filmbiographie eines sehr zwielichtigen Helden wurde aus Frankreich importiert: Yves Ciampis WER SIND SIE, DR. SORGE?. Richard Sorge, der bekanntlich während des zweiten Weltkriegs für Moskau Spionagedienste geleistet hat, wird neuerdings sehr lebhaft für den Kommunismus reklamiert. Da Ciampis Film, der 1961 auch in der Bundesrepublik gezeigt worden ist, diese ideologischen Thesen stützt, war er für den DDR-Verleih zweifellos geeigneter als Veit Harlans VERRAT AN DEUTSCHLAND. Sorge, dargestellt von Thomas Holtzmann, ist nach östlicher Terminologie kein Spion sondern ein „Kundschafter“. Solche begrifflichen Differenzierungen wirken häufig wie sprachliche Ballanceakte. Bei Sorge ist die Nuancierung nur ein Trick, um ihn zum keimfreien Helden zu etikettieren. Im Sinne der sozialistischen Propaganda ist er nun richtungweisender als Werner Holt, obwohl mit dem jungen Mann künstlerisch viel mehr Staat zu machen ist.

Stuttgarter Zeitung, 2. März 1965