Texte & Reden
23. Oktober 1964

Wolken am geteilten Himmel

Text für die Stuttgarter Zeitung

Die Ostberliner DEFA ist genügsam geworden: zwei besondere Filme im Jahr reichen aus, um ihr selbstkritisches Gemüt zu beruhigen. Die Diskussionen über diese Musterstücke fangen das Lamento über den üblichen Leerlauf auf. Die oft sehr fruchtbaren Auseinandersetzungen kommen wie von selbst in Gang, denn in der DDR ist das Publikum leicht zu aktivieren. Das öffentliche Filmgespräch muß nicht einmal manipuliert werden. In diesem Jahr scheint die Bewegungsfreiheit besonders großzügig bemessen. Das hängt damit zusammen, daß ein Beitrag zu Gegenwartsproblemen geliefert worden ist, der eine ausgiebig diskutierte Erzählung umgestaltet hat. Es handelt sich um den GETEILTEN HIMMEL, geschrieben von Christa Wolf, inszeniert von Konrad Wolf. Der Film schildert die Bewußtseinsbildung eines jungen Mädchens, das den Konflikt wischen privatem Glück und Bekenntnis zur Sozialistischen Gemeinschaft austragen muß. Das Mädchen verliebt sich zunächst in einen skeptischen Außenseiter, einen Studenten ohne Bindung an den Staat, und schließt sich dann der Brigade einer Fabrik an. Als der junge Mann in den Westen flüchtet, entscheidet sich das Mädchen für die DDR, weil sie sich der neuen Gesellschaft zugehörig fühlt.

Die Diskussionen um den GETEILTEN HIMMEL gehen von einem inhaltlichen und einem formalen Ansatzpunkt aus. Es steht zur Debatte, ob die Lösung des Konflikts – der Verzicht des Mädchens auf ein privates Glück – glaubhaft ist und ob die komplizierte Struktur des Films – ein schwer durchschaubares System von Rückblenden – allgemeines Verständnis finden kann. Auf beide Fragen überwiegt das Nein beim Publikum. Da jedoch Konrad Wolf als renommiertester Regisseur der DEFA gilt, versuchen die östlichen Film-Schriftgelehrten die Schöpfer des GETEILTEN HIMMEL in Schutz zu nehmen. Nach offizieller Lesart handelt es sich um einen „progressiven Beitrag zur sozialistischen Filmkunst“ und die Auseinandersetzungen haben sich inzwischen auf eine andere Ebene verlagert: sie finden in Studentenzirkeln, Kulturzeitschriften und unter den Kulturschaffenden statt. Auch in der Bundesrepublik wird vom GETEILTEN HIMMEL gesprochen werden: die Erzählung von Christa Wolf, in der DDR mittlerweile in 130.000 Exemplaren verbreitet, ist als Lizenzausgabe in einem Westberliner Verlag erschienen, und Konrad Wolf will Ende Oktober mit seinem Film in einigen westdeutschen Städten gastieren.

Zwei DEFA-Filme dieses Jahres könnte man sich sogar in einem westdeutschen Verleihprogramm vorstellen: KARBID UND SAUERAMPFER von Frank Beyer, die amüsante Komödie einer Odyssee im Nachkriegsdeutschland, und MIR NACH, CANAILLEN, die abenteuerliche Geschichte eines Haudegens zur Zeit August des Starken, inszeniert mit einem Seitenblick auf FANFAN. Beide Filme sind ideologisch ziemlich keimfrei und zeigen zwei DEFA-Stars in Spiellaune: Erwin Geschonneck, ein verdienter Charakterdarsteller, gibt eine herrliche Arbeitertype, und Manfred Krug, das nationale Filmidol der DDR-Jugend, reitet, rauft und liebt sich so recht in die Herzen des Publikums. Die Filme wurden auch von der Kritik sehr freundliche akzeptiert, denn es waren Ausnahmen. DEFA-Lustspiele sind sonst längst nicht so lustig, wie es die Norm vorschreibt. Heiterkeitserfolge im Kino ereignen sich eher unfreiwillig, und es gehört zu den obligaten Kümmernissen der DEFA, daß mit den Komödien kein Staat zu machen ist. So ergänzen westdeutsche Unterhaltungsfilme das Repertoire, und der Zustrom ist enorm, gleichgültig, ob es sich um DIE ZÜRCHER VERLOBUNG, SCHLOSS GRIPSHOLM oder um PENSION SCHÖLLER und BÜHNE FREI FÜR MARIKA handelt.

Mehr Glück hat die DEFA bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Da läuft sie der westdeutschen Produktion mühelos den Rang ab. Der Erfolgsfilm des letzten Jahres – NACKT UNTER WÖLFEN, nach dem Buchenwald-Roman von Bruno Apitz – hat sich inzwischen fast zum Mythos entwickelt, doch ein bereits fertiggestellter Film soll daran anknüpfen: DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT, eine Kriegsgeschichte nach dem Roman von Dieter Noll. Damit die Diskussionen um diesen Film nicht mit der Auseinandersetzung um den GETEILTEN HIMMEL kollidieren, ist mit dem Einsatz erst Anfang nächsten Jahres zu rechnen.

Die sorgfältige Vorbereitung des Filmstarts gilt im übrigen als neue Verleihforderung. Es ist nicht etwa der umständliche Zensurweg, der die Premiere längst abgedrehter DEFA-Filme verzögert. In den letzten Jahren macht sich vielmehr eine überlegte Spielplanpolitik bemerkbar. Neue Produktionen werden auf Eis gelegt, bis der Aufführungstermin auch politisch geeignet erscheint (im besten Fall findet gerade ein „Jahrestag“ statt). So wurde jetzt zum 15jährigen Bestehen der DDR ein Film um eine kommunistische Legendenfigur uraufgeführt: DAS LIED VOM TROMPETER, eine Blutopferballade aus der Liebknecht-Zeit. Für die unpolitische Weihnachtszeit wurde DER FLIEGENDE HOLLÄNDER aufgespart, die erste Verfilmung einer Wagner-Oper. Das Fernsehen hat sich inzwischen auch in der Zone so ausgebreitet, daß die DEFA im harten Konkurrenzkampf steht. Dabei geht es kaum um kommerzielle Probleme, sondern um künstlerisch-ideologische Existenzfragen. Der Mangel an Autoren – und somit an Originalstoffen – ließ den Film bei der Romanliteratur Schutz suchen. Zu 90 Prozent berufen sich DEFA-Filme auf vorherige Bucherfolge. Das schränkt das Risiko ein und läßt die Regisseure von vorausgegangenen Diskussionen nutznießen.

Stuttgarter Zeitung, 23.10.1964